On the Move • Mein Leben by Oliver Sacks

On the Move • Mein Leben by Oliver Sacks

Autor:Oliver Sacks [Sacks, Oliver]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783644040816
Herausgeber: Rowohlt E-Book
veröffentlicht: 2015-05-29T16:00:00+00:00


Bald nach meinem Fortgang von Station 23 reiste ich nach Norwegen, weil ich dachte, das Land sei ein schöner, friedvoller Ort, um meine Schmähschrift zu verfassen. Doch dann hatte ich eine Reihe von Unfällen, die nach und nach immer schlimmer wurden. Zuerst ruderte ich weit auf den Hardangerfjord hinaus, einen der größeren Fjorde Norwegens, wo durch meine Ungeschicklichkeit eines der Ruder über Bord ging. Irgendwie schaffte ich den Rückweg mit einem Ruder, brauchte aber mehrere Stunden. Unterwegs fragte ich mich ein- oder zweimal, ob ich es überhaupt schaffen würde.

Am folgenden Tag brach ich zu einer kleinen Bergtour auf. Ich war allein und hatte niemandem gesagt, wohin ich wollte. Am Fuß des Berges sah ich ein Schild mit der norwegischen Aufschrift: «Achtung, gefährlicher Bulle». Darunter befand sich eine kleine Zeichnung von einem Mann, der von einem Bullen auf die Hörner genommen wurde. Ich hielt das für norwegischen Humor. Was hatte ein Bulle auf einem Berg zu suchen?

Ich vergaß ihn, doch einige Stunden später, als ich, nichts Böses ahnend, um einen großen Felsbrocken herumging, sah ich mich plötzlich von Angesicht zu Angesicht einem riesigen Bullen gegenüber, der sich auf dem schmalen Pfad breitmachte. «Schrecken» ist ein viel zu harmloses Wort für das, was ich empfand, und meine Furcht löste eine Art Halluzination aus: Das Gesicht des Bullen dehnte sich aus, bis es das Universum ausfüllte. Sehr beiläufig, als hätte ich mich aus ganz harmlosen Gründen zur Umkehr entschlossen, trat ich langsamen Schrittes den Rückweg an. Aber dann gingen die Nerven mit mir durch, und ich begann, den schlammigen, schlüpfrigen Pfad hinunterzurasen. Hinter mir hörte ich schwere, dröhnende Schritte und heftiges Atmen (verfolgte der Bulle mich?), und plötzlich – ich weiß nicht, wie – befand ich mich am Fuße einer Klippe und lag auf einem grotesk verdrehten linken Bein.

In extremen Situationen können wir Dissoziationen erleben. Mein erster Gedanke war, dass jemand, jemand, den ich kannte, einen Unfall hatte, einen schlimmen Unfall, und erst dann wurde mir klar, dass ich dieser Jemand war. Ich versuchte aufzustehen, aber das Bein gab nach wie ein Bündel Spaghetti, vollkommen schlaff. Ich untersuchte das Bein – sehr professionell, indem ich mir vorstellte, ich sei ein Orthopäde, der einer Gruppe von Studenten eine Verletzung demonstriert: «Sie sehen, dass die Quadrizepssehne vollkommen abgerissen ist, die Kniescheibe lässt sich hin und her bewegen, das Knie kann nach hinten verlagert werden: Sehen Sie, so.» Ich schrie. «Das veranlasst den Patienten zu schreien», fügte ich hinzu, und dann kam wieder die verspätete Erkenntnis, dass ich kein Professor war, der etwas an einem verletzten Patienten demonstrierte, sondern dass ich selbst der Verletzte war. Ich hatte einen Regenschirm als Wanderstock benutzt. Jetzt brach ich den Handgriff ab und schiente mein Bein mit dem Regenschirm, den ich mit Stoffstreifen von meinem Anorak festband. Dann begann ich den Abstieg, indem ich mich auf meine Arme stützte. Zuerst tat ich es sehr vorsichtig, weil ich dachte, der Bulle könnte noch in der Nähe sein.

Ich durchlebte viele verschiedene Stimmungen, während ich mich und mein nutzloses Bein auf dem Pfad nach unten stemmte.



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