Mehr Süden wagen by Sebastian Schoepp

Mehr Süden wagen by Sebastian Schoepp

Autor:Sebastian Schoepp [Schoepp, Sebastian]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Westend
veröffentlicht: 2014-08-18T00:00:00+00:00


Vom Denken des Südens

»Und wenn einer den anderen bekehren will,

so ist das erste, was er tun muss, die Sprache

des anderen zu lernen.«

Miguel de Unamuno1

Das Institute for Advanced Sustainable Studies (IASS) ist untergebracht im Gebäude der ehemaligen DDR-Zentralbank in Potsdam. Eine alte Straßenbahn rattert dorthin auf preußisch geraden Straßenzügen. Im Keller kann man noch den alten Tresor besichtigen, die mannshohe Tür steht weit offen, innen gähnt die Leere. Auch in den Räumen darüber hat man ausgemistet, behutsam renoviert und ein schlichtes Forum für Gespräche geschaffen, das viel Platz für kreative Gedanken lässt. Es ist Januar 2012, draußen blaut die Kälte – vor allem die Gäste aus dem Süden frieren. Die meisten sind Lateinamerikaner, Anthropologen, Historiker, Regierungsberater, Botschafter, Kulturwissenschaftler, aber auch deutsche public intellectuals wie der Naturwissenschaftler Ernst Ulrich von Weizsäcker und der Politologe Klaus Bodemer vom Giga-Institut Hamburg für Globale und Regionale Studien. Sie sind der Einladung des früheren deutschen Umweltministers, Professor Klaus Töpfer, und des Anthropologen Constantin von Barloewen gefolgt. Man will darüber diskutieren, ob Fortschritt ohne »Verwestlichung« möglich ist.

Professor Töpfer hat das IASS nach seiner Zeit als aktiver Politiker und Direktor des UN-Umweltprogramms in Nairobi ins Leben gerufen, um zu erforschen, wie die Welt nachhaltiger wirtschaften kann. Bei der Tagung im Januar 2012 soll herausgefunden werden, ob ein »Denken des Südens« eine Rolle spielen könnte bei einem alternativen, weniger ressourcenverschlingenden Wachstumsmodell. Kenner der Sozialforschung über Schwellenländer wie der ecuadorianische Verfassungsvater Alberto Acosta halten Vorträge über die Frage, ob technischer und zivilisatorischer Fortschritt künftig nicht viel stärker kulturgeschichtlichen Traditionen angeglichen werden müsste. Acosta findet im Denken der Völker der Anden Ansätze, die nicht nur für die Schwellenländer, sondern in der gegenwärtigen Werte- und Klimakrise auch für die Industrienationen nützlich sein könnten.

Der Politiker und Wirtschaftswissenschaftler hat als Präsident der verfassunggebenden Versammlung Ecuadors 2008 dafür gesorgt, dass der indigene Naturbegriff Einzug ins Grundgesetz des Landes fand. Nach Überzeugung der Urvölker ist die Natur ein atmendes Wesen, das man zwar behutsam zum eigenen Unterhalt nutzen darf, jedoch zu achten hat. Diese Form von Ressourcenschutz stand jahrhundertelang im Widerspruch zum »Extraktivismus«, der Überzeugung, dass man der Erde ihre Reichtümer entreißen muss, um voranzukommen. Bei der Abschlusstagung präzisieren Vertreter der indigenen Völker Boliviens und Ecuadors in Filzhüten und bunten Trachten Acostas Ausführungen: Sie ziehen in Zweifel, dass das Morgen immer besser sein muss als das Heute. Sie erläutern, dass ihrem Denken ein Begriff von Zeit zugrunde liegt, die nicht linear verläuft, sondern zyklisch – und die in die Rückkehr in einen paradiesischen Urzustand mündet. Für die Völker der Quechua und Aymara stellt Sumak kawsay, »gut leben«, ein höheres Gut dar als das westliche »Besser leben«. Dahinter steht der Appell, sich mit dem zufrieden zu geben, was man hat, anstatt ständig nach mehr zu streben.

Eigentlich hätte auch Edgar Morin aus Paris zu der Tagung kommen sollen. Morin, Jahrgang 1921, war Résistance-Kämpfer, er gehört zur Generation Stéphane Hessels und plante mit diesem zu der Zeit ein gemeinsames Buch, das an Hessels Manifest Empört euch! anschließen sollte, welches 2011 das Stichwort gab für die Protestbewegungen in Südeuropa. Doch Morins fragile Gesundheit lässt die Reise nach Potsdam nicht zu.



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