Martin Luther, mein Vater und ich by Diez Georg

Martin Luther, mein Vater und ich by Diez Georg

Autor:Diez, Georg [Diez, Georg]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: C. Bertelsmann
veröffentlicht: 2016-08-30T12:58:19+00:00


Die Gewalt, von der dieses Buch durchzogen ist, war mir unbekannt, als ich aufwuchs. Ich sah sie im Fernsehen, weit weg, in anderen Ländern. Ich sah sie nicht in der Welt, die ich kannte. Sie war klein, diese Welt, sie war heil, sie war auf einer Lüge gebaut, denn die Abwesenheit von Gewalt an einem Ort bedingt umso größere Gewalt an einem anderen Ort. Der Friede des einen ist der Krieg des anderen.

Es war die Welt, es war die Herrschaft des Westens, der zur Zeit Luthers seinen Triumphzug antrat, mit den Mitteln des Wissens und der Gewalt, mit Kriegen, Eroberungen, Unterwerfungen, Entdeckungen, mit all den Grausamkeiten der Sklaverei, des Kolonialismus, des Völkermords, die mit den Worten Gottes gerechtfertigt werden konnten. Jener Westen, der sein Selbstverständnis auf Verbrechen baute, die er verdrängte. Jener Westen, der in einer Krise steckt, 500 Jahre nach Luther, 500 Jahre, nachdem die Welt von Europa aus erobert wurde, mit Worten und mit Taten.

An den Rändern, an den Bruchstellen des Westens traten Risse auf, schon lange vor dem Ende des 20. Jahrhunderts, wenn man von außen auf Europa oder Nordamerika schaute, aus Afrika, aus Asien, aus Südamerika – am 11. September 2001 wurde es dann auch für alle deutlich, die wie ich im Schlummerschlaf gelegen hatten: Sie hassen den Westen, sie wollen den Westen vernichten, sie sind zu allem bereit. Aber wer ist »sie«? Und vor allem: Warum hassen sie den Westen? Die Naivität dieser Frage zeigte, wie tief sich der Schlaf in das Selbstverständnis des Westens gegraben hatte.

Wie sich Macht aus Gewalt konstituiert, das kann man in der Bibel nachlesen. Es geht darin um Gruppenbildung, es geht um Abgrenzung, es geht darum, wie man Aufstände inszeniert und Identität konstruiert. All das also, was ich in den Straßen von Kiew sah, was ich in den Gesprächen mit den Malern und Schriftstellern fand, die auf dem Maidan gekämpft hatten, all die Hoffnungen und Enttäuschungen, die, so scheint es, in der jeweils gleichen Abfolge diese Umbrüche durchziehen. Es waren die Konturen des Revolutionären, die ich in Kiew und später auch in Kairo sah, es war ein Moment der Einsicht in die durchaus böse Wirkweise dieser Welt. Ich wusste, dass es die Gewalt gab, ich hatte es immer gewusst, aber ich hatte sie nicht gesehen.

Die Grausamkeiten der Bibel sind also die Grausamkeiten der Welt. Da erwürgt »ein jeglicher seinen Bruder, Freund und Nächsten«, und am Ende sind dreitausend Mann an einem Tag gestorben. Aber es ist Gottes Wille, so steht es da, es ist Gottes Auftrag, dieses Morden, um das »halsstarrige Volk«, das er »vertilgen« möchte, zu disziplinieren. Und weil es Gottes Wille ist, wird aus der Grausamkeit der Menschen etwas anderes. Es wird ein Kampf nicht darum, was der Mensch ist, sondern darum, was der Mensch sein soll. Und die Antwort auf diese Frage findet der Mensch nicht in sich, sondern in Gott.

Aus der Grausamkeit erwachsen das Gesetz und die Ordnung, von Gott gegeben, auf steinernen Tafeln, ein ichsüchtiger Verehrungsgott, so stellt sich heraus, der zornig wird, wenn er



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