Kürzere Tage by Hahn Anna Katharina

Kürzere Tage by Hahn Anna Katharina

Autor:Hahn, Anna Katharina [Hahn, Anna Katharina]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Suhrkamp Verlag
veröffentlicht: 2010-10-23T22:00:00+00:00


Marco

Hinter dem Vorhang knipst Marco die Lampe an. Mickymaus grinst wie eh und je. Ein Ohr ist geklebt, aber sie ist immer noch da und leuchtet zu seiner Begrüßung auf. Schade eigentlich, sie wird hierbleiben müssen. Paßt nicht in den Rucksack. Micky wirft ihren gelben Lichtkreis auf die Matratze, auf die hellblaue Bettwäsche, die an vielen Stellen schon löchrig ist und so leicht reißt wie Klopapier. Marco schmeißt seinen Rucksack in eine Ecke und hockt sich hin. Der winzige fensterlose Raum riecht nur nach ihm selbst. Bis hierher ist Pornos Gestank nicht vorgedrungen. Sein Herz klopft wieder, anders als vorhin an der Wohnungstür. Er ist aufgeregt, aber es fühlt sich nicht schlecht an. Er wühlt in dem Karton, der am Fußende steht, zieht seinen Gameboy raus. Er ballert ein bißchen rum, dann fühlt er sich ruhig genug für den Zettel. Marcos Finger wandern unter die Matratze und ziehen ein mehrfach gefaltetes Stück Papier heraus. Anita hat es damals in den Müll geschmissen, deshalb ist es fleckig und hat einen langen Riß. Marco streicht es glatt, so kann man die mit blauem Kugelschreiber ordentlich hingemalten Wörter noch lesen: »Ich halt’s hier nicht mehr aus, ich geh heim nach Eestimaa. Kommt nach, wenn ihr wollt.« Und dann Name und Adresse, die klingen wie ein Zauberspruch: Eino Rännumees, Pedassaare, Rahu mois, Lääne-Virumaa. Eestimaa.

»Sein Scheiß-Estland, das kann er sich sonstwohin stecken, ich geh da nicht hin, niemals!« Die dicke Anita heulte, ihr lief die Wimperntusche runter, sie wischte sich mit den Fäusten schwarze Streifen über die Backen. »Das blöde Arschloch! Sein Mistland am Ende der Welt ist ihm wichtiger als wir. Du kannst ihn echt in die Tonne kloppen.« Marco war ausgerastet: »Er wollte, daß wir mitkommen! Warum sind wir nicht mitgegangen? Du bist schuld! Ich hätte es gepackt, ich kann schon ein paar Sachen sagen, der Eino hat mir alles beigebracht: palun, aitähh, kiisu, kurat. Jetzt kommen wir nie ans Meer!«

Eino konnte es in Stuttgart nicht mehr aushalten, weil ihm das Meer fehlte, der Geruch und die Kraniche, die im Spätsommer jeden Abend da rumflogen. Eino hatte gesagt, ihr Geschrei höre sich an wie Hundegebell. Fliegende Hunde über dem Meer. Marco wollte das hören. Eino wußte genau, was er vorhatte: »Meine vanaema hat ein Haus, es heißt Rahu mois. Wenn du in der Küche stehst und abwäschst, kannst du aus dem Fenster das Meer sehen und davor Kiefern, die wachsen bis zum Strand runter. Und die Kartoffelrosen, die blühen da auch, büscheweise, mit Blüten, so groß wie deine Hände. Meine vanaema wohnt da ganz allein, und sie ist ziemlich alt. Das Haus ist ein bißchen kaputt, es regnet durch das Dach, und man müßte es neu anstreichen, aber das ist eine gute Arbeit. Du könntest mir dabei helfen, karu. Es gibt einen Garten und ein Gewächshaus für Tomaten, Gurken und so, und im Meer Fische ohne Ende, und im Wald kann man Fallen aufstellen, für einen jänes, oder mal einen p˜oder schießen. Draußen im Meer liegt ein Felsen, die Alten sagen, der vanapagan hat ihn aus Wut da reingeworfen, weil ein kluger Fischer ihn überlistet hat.



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