Judith, die Kluswirtin by François Louise von
Autor:François, Louise von
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: (Privatkopie)
veröffentlicht: 2010-02-03T05:00:00+00:00
Ein Blick
Der Pfarrherr hatte sich von seiner Begleiterin nahe einer Lichtung getrennt, aus welcher sie in früheren Jahren das Waldhaus oftmals mit freudigem Herzen hatte hervorlugen sehen. Heute entdeckte sie es nicht früher, bis sie dicht vor seinem Eingange stand. Dunkle Edeltannen und frischgrünes Strauchgeschlinge bildeten eine Laube, unter welcher die Hütte ihren Verfall verbarg; die Wallhecken waren mannshoch in die Höhe geschossen, die Stege überwuchert, Hof und Gärtchen zur Wildnis ausgeartet, zwischen deren rankendem Gestrüpp eine einzelne Blüte, eine Genziana oder Iris, an die Zeiten erinnerte, wo der Simon sie für die Liebste seines Herzens gepflegt. Die Bienen waren längst ihren Stöcken entflogen, ihr Haus lag in Trümmern, nur der Brunnen rann noch unverkümmert wie damals, und seine abspringenden Tropfen labten die saftigen Kressen, die sich an seinem Rande eingebürgert, seitdem kein Menschenwesen mehr seiner Erquickung bedurfte.
Judith blickte eine lange Weile durch das morsche Pfahlwerk der Heckenpforte. Seit sie ihr Herz vor einem andern entlastet, seit sie jenes laute »Nein« gesprochen und vernommen, empfand sie eine Leichtigkeit, ein friedliches Rastverlangen, das sie seit langen, langen Jahren entbehrt. Ihr graute nicht mehr vor dem gemiedenen Hause; Erinnerung und Hoffnung lockten sie hinein. Sie zog den Riegel von dem Gitter und setzte den Fuß in das kleine üppige Gehege. Seit sie ein Kind war, hatte sie es nicht mehr betreten, und sie dünkte sich wieder ein Kind, so neugierig verlangend spähte sie umher. Das Haus war verschlossen, das Fenster undurchsichtig verstaubt, aber sie vermochte sich nicht alsobald loszureißen; dorthin trieb es sie unter die Weimutskiefer am Wegzaun, Simons stolzen Lieblingsbaum als Knabe schon. An dieser Stelle hatte sie ihn getroffen an dem Tage, als der Vater zum erstenmal im Rausch die Hand gegen die Mutter erhoben und das Mädchen mit seinem Schreck und Schmerz zu dem jungen Freunde geflüchtet war. Er tränkte die Nadelstämmchen, welche der alte Waldheger auf den Wallrand gesät, und sagte – sie hörte es noch, denn es war wohl das letztemal, daß er den kindlichen Trostgedanken ausgesprochen: »Wenn sie Bäume sind, heiraten wir uns, und alles ist gut.« Und sie hatte ihre Tränen getrocknet, ihm das Wasser zum Begießen zugetragen, sich endlich von ihm nach dem Hause zurückführen lassen, das sie in trotziger Empörung je wieder zu betreten verschworen. Jetzt standen die Stämme breit und dicht gleich einer Wand, und der, welcher sie gepflegt –?
Noch regnete es nicht, ein glühender Gürtel schien den Niederschlag zu dämmen; aber die schieferschwarzen Wolken senkten sich tief zur Erde, über eine Weile mußten sie den Gürtel durchbrechen. Die wetterkundige Wirtin überließ sich achtlos der Ruhe eines lastfreien Augenblicks. Sie setzte sich auf den Wallrand unter die niederhängenden Zweige der Kiefer; Geißblatt und Flieder dufteten betäubend in der atemlosen Schwüle; halb im Sinnen, halb in Ermattung schlossen sich die Augen. Sie fühlte jenes elektrische Zucken der Nerven, das nach der Erregung die Schlummerruhe verkündet. »Nein, nein, nein!« flüsterte sie halb schon im Traum.
Aber noch den Laut auf den Lippen schreckt sie zusammen; sie hört einen schleichenden Schritt auf dem Stege jenseit des
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