Jeder Tag ist der Anfang des Lebens by Rilke Rainer Maria
Autor:Rilke, Rainer Maria
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Insel Verlag
veröffentlicht: 2017-04-11T16:00:00+00:00
15. An Elisabeth von der Heydt
Château de Muzot sur Sierre (Valais), Schweiz,
am 17. August 1922
Verehrte und liebe Frau von der Heydt,
welche Bewegung in mir, Ihnen die Hände zu reichen: lassen Sie mich, in eigener Schrift, wiederholen, was, gestern schon, mein Telegramm, Ihnen zu versichern, vorausgeeilt war: seit deren Eintreffen stehen alle meine Stunden unter dem Einfluß der bestürzenden Nachricht. Mögen Sie fühlen können, daß ich unter denen bin, die Karl von der Heydt um seines stillen und tiefen Wertes willen anhänglich und zugetan gewesen sind: es genügte, dieses Verhältnis so aufzufassen, wie es war, um sofort zu verstehen, daß diese Beziehung vor seinem Andenken zu einer bleibendsten werden muß, vermehrt in ihrer Natur um ein Unsägliches an Wehmut und Ehrfurcht.
Selbst die kurze Fassung der Todes-Anzeige ließ mich fühlen und mitwissen, welches starke Beispiel von Duldung und Langmut Sie, während der letzten Jahre, vor Aug und Herzen gehabt haben mögen, welchen Beweis gerechten und reinen Ertragens, welchen täglichen und endgültigen Mut.
Es will mir scheinen, als ob ich von all dem nicht so entfernt gewesen wäre, wie es, den Umständen nach, den Anschein hat; trotzdem, trotz dieser fühlbaren inneren Nähe überflutet mich nun der Vorwurf, gegen den getreuen und einsichtigen Freund so vieler Jahre in der letzten und vorletzten Zeit nicht mitteilsamer gewesen zu sein. Mein Schweigen war, zum Teil, durch Bedrückungen und Sorgen verursacht, die mir die Feder zurückhielten, denn mir war klar, daß man ihm nur noch heiter schreiben dürfe. Ebenso glücklich machte es mich, daß ich ihm eine wirklich gute Nachricht für einen nahen Moment vorbereiten durfte: bald hätte ich ihm von dem Abschluß einer großen, seit zehn Jahren in Schwebe gebliebenen Arbeit erzählt –, ich schob die Mitteilung nur deshalb noch hinaus, um, möglichst gleichzeitig mit dem Briefe, auch schon ein paar Proben vorlegen zu können. Wie oft stellte ich mir vor, daß gerade diese neue, langsam erwachsende Leistung ihm so lieb und nahe sein würde, wie es einst, zu seiner Zeit, das Stundenbuch gewesen ist, das doch die eigentliche Basis des herzlichen, oft hilfreichen Vertrauens war, dessen ich mich von seiner Seite rühmen durfte! Die jähe Entbehrung, Karl von der Heydt nicht mehr unter diejenigen zu rechnen, zu denen dieses Buch eines Tages hinausgehen wird, ist eine der empfindlichsten Stellen meines, im übrigen von so viel Erinnerung genährten Schmerzes …
Ich darf Sie bitten, auch Baronin Palm und die Ihrigen, sowie besonders Gerda-Dorothea, daran zu erinnern, daß ich mich in ihre große Heimsuchung, durch das Bewußtsein meines eigenen Verlustes, einbezogen fühle. Sie werden mir alle dieses schmerzliche Recht einräumen, aus dem ich auch den Vorzug ableite, Ihnen, liebe Frau von der Heydt, für alle Zukunft in alter Freundschaft ergeben bleiben zu dürfen.
Ihr
Rilke.
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