Ueber Nacht by Gruber Sabine

Ueber Nacht by Gruber Sabine

Autor:Gruber, Sabine [Gruber, Sabine]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783406657160
Herausgeber: C.H.Beck
veröffentlicht: 2013-11-30T16:00:00+00:00


XIII

Marta hockte, den Rücken an den Metallschrank gelehnt, die Hände auf den Knien, im Umkleideraum und blickte zum Plafond. «Ehrlich gesagt ist mir erst in der Früh aufgefallen, daß er tot ist.» Sie kämmte mit den Fingerspitzen ihre Stirnfransen. Ich hatte mich schon oft gefragt, warum sie ihre gleichmäßigen Gesichtszüge hinter den Haaren versteckte.

«Aber du wirst doch die Totenflecken –»

«Ich war nicht mehr in seinem Zimmer», unterbrach sie mich, «und Mancini hat geschlafen.» Marta sah blaß aus, abgemagert.

Rossis Sohn war bei der Direktorin gewesen und hatte sich beschwert, daß man seinen Vater weder gewaschen noch frisch angezogen habe.

Ich dachte an Lelli, den Mechaniker aus Campobasso, der vor vier Monaten gestorben war. Eine halbe Stunde nachdem ich den Atemstillstand bemerkt und den Arzt gerufen hatte, waren die rötlichen Flecken aufgetreten. Zu diesem Zeitpunkt war er höchstens zwanzig Minuten tot gewesen. Aber viereinhalb Stunden? Ich verstand Marta nicht. Sie hatte Rossi weder die Zahnprotese eingesetzt noch seinen Mund mit einer Zellstoffrolle geschlossen – das waren Handgriffe, die sich in Sekunden erledigen ließen.

«Ich bin eingeschlafen», sagte Marta, «ich habe zwei Stunden gepennt. Das ist doch normal, daß man während des Nachtdienstes mal pennt. Nicht normal ist, daß wir alleine den Dienst schieben, weil sie keine neuen Leute anstellen wollen.» Sie erhob sich, indem sie sich mit einer Hand vom Boden abstützte. «Und jetzt die Kinder», seufzte sie, «meine Mutter ist nach Bologna gefahren.»

Ich mußte an Rossi denken, an den Schaum in seinen Mundwinkeln. Sein Sohn hatte mir einmal erzählt, wie er nach Rom gekommen war, die wenigen Habseligkeiten in einer Kartonschachtel verstaut. Er war in einer kleinen Pension in der Via del Viminale abgestiegen, die nur aus Hinterhofzimmern bestanden hatte.

«Hast du ihn eigentlich besser gekannt», sagte ich.

«Rossi? Was willst du über Rossi wissen, er hat ja nicht geredet.» Sie nahm ihre Tasche, verschloß die Schranktür. «War er nicht Tischler? Nein – wart mal, er war Schuhmacher.» Marta zuckte mit den Schultern und wandte sich dem Ausgang zu. Sie hatte schon den Türgriff in der Hand, da drehte sie sich noch einmal um: «Sag mal, wart ihr gestern noch spazieren? Ich bilde mir ein, euer Auto gesehen zu haben.»

«Ich war zu Hause, und Vittorio –»

«Gegenüber der Galleria d’Arte Moderna. Aber vielleicht habe ich mich getäuscht.» Weg war sie.

Woher kennt Marta unser Auto, fragte ich mich, dann fiel mir ein, daß ich sie einige Male nach Hause gefahren hatte.

Auf dem Gang kam mir die Aushilfskraft aus der Frauenabteilung entgegen.

«Ich bin Mariella», sagte die Studentin. Die Direktorin habe sie geschickt, da im oberen Stock ausreichend Arbeitskräfte vorhanden seien.

«Mira.»

«Ich weiß.» Sie machte eine kurze Pause. «Ich bin noch nie in der Männerabteilung gewesen.»

«Es ist leichter.»

Sie sah mich an, folgte mir in die Schwesternküche.

Ich mußte an meine ersten Arbeitswochen denken, wie schwer ich mich damals zurechtgefunden hatte. Nach fast einem Monat Frühdienst auf der Männerabteilung fiel der erste Nachtdienst an. Ich hatte große Angst, jemand könnte sterben und ich wäre aufgrund der nächtlichen Personalreduktion gezwungen, ohne jede Hilfe den Leichnam zu waschen und anzuziehen. Es war niemand gestorben, aber ich wurde das erste Mal mit alten Frauenkörpern konfrontiert.



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