Herz auf Eis by Isabelle Autissier

Herz auf Eis by Isabelle Autissier

Autor:Isabelle Autissier [Autissier, Isabelle]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: mare
veröffentlicht: 2017-03-06T16:00:00+00:00


Wie oft hat sie schon gedacht, sie müsse sterben? Wie oft hat sie sich schon ihren verschrumpelten Körper vorgestellt, in unnatürlicher Haltung durch den Fall, mit aufgerissenen Kleidern, das bloße Fleisch durchstochert von den Sturmvögeln? Sie weiß es nicht mehr, aber das ist auch egal. Jetzt zählt nichts außer höchster Konzentration, um einen Fuß vor den anderen zu setzen, um den schmerzenden Körper zu zwingen, sich zu bewegen, weiter und weiter.

Sie zählt die Tage nicht: fünf, sechs, vielleicht sieben. Sie weiß nicht mehr, seit wann sie nichts gegessen hat, wann der letzte Pinguin verzehrt war. Ihr Bauch hat vor Hunger gebrannt, der Kopf war schwer wie Blei, dann hat sie sich leicht gefühlt, so leer wie die Muscheln, die auf dem Strand tänzeln. Sie hat den Hunger überwunden.

Sie denkt nur wenig, es fällt ihr schwer, sie fantasiert, springt von einer Erinnerung zur anderen, und dabei mischt sich ihre Jugend mit dem Schiffbruch und ihrer Begegnung mit Ludovic. Auch der mangelnde Schlaf trägt dazu bei. Seit der ersten Nacht quält sie die eisige Kälte. Auf den Anhöhen der Insel kann man sich nur schützen, indem man sich in den Schnee eingräbt. So zusammengekauert spürt sie machtlos, wie die Gliedmaßen nach und nach erstarren, bis nur ein kleiner warmer Punkt noch bleibt in ihrem leeren Bauch. Dann zwingt sie sich zum Aufstehen, mitten in der Nacht, ganz gleich ob es regnet oder schneit, nur um nicht zu sterben. Die beiden letzten Nächte hat sie gar nicht geschlafen, weil es stürmte. Sie hat sich so gut es ging im Schutz eines Felsens gehalten und ist auf und ab gegangen, bis es hell wurde, überzeugt davon, noch vor Sonnenaufgang zu sterben. Aber nein. Sie ist nicht tot. Jetzt steigt sie langsam einen steilen Hang hinab, und dort unten, durch den Nebel und mit den trüben Augen kaum zu sehen, sind zwei rote Dächer am Ufer.

Natürlich ist nichts so gelaufen, wie sie es sich naiverweise beim Aufbruch vorgestellt hatte. Vom ersten Tag an hat der Gletscher sich als heimtückisch erwiesen. Wenn das Eis unter Druck steht, zerspringt es in tausend Teile, in tausend Schollen, die ein unüberwindbares Chaos ergeben. Daher hat sie sich entschieden, den Gletscher über die Höhen zu umgehen. Sie müht sich ab, mal an der Randkluft entlang, mal durch das Wirrwarr von schmalen Gängen, die häufig in einer Sackgasse münden. Manchmal schlüpft sie in eine Spalte, taucht tief hinab in den Gletscher, nimmt dunkle Wege zwischen zwei kalten, durchscheinenden Felswänden. Anschließend muss sie mühsam Stufen ins Eis schlagen, um wieder hinaufzugelangen. Am ersten Abend schafft sie es, ein kleines Feuer direkt im Felsen anzuzünden, umgeben vom Eis, auf das die flackernden Flammen rote und goldene Reflexe werfen, durch die es lebendig erscheint. Sie kann den Pinguin nicht wirklich garen, aber das lauwarme Fleisch stärkt sie. Das ist das einzige Mal, dass sie Feuer machen kann.

Am nächsten Morgen hebt sich der Wind, und es fängt an zu regnen. Sie braucht einen weiteren Tag, um den Gletscher hinaufzusteigen. Im Dämmerlicht erscheint ein großes Plateau vor ihr.



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