Hermeneutik unter Verdacht by Andreas Kablitz Christoph Markschies Peter Strohschneider
Autor:Andreas Kablitz, Christoph Markschies, Peter Strohschneider
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: De Gruyter
veröffentlicht: 2021-09-20T10:41:54.888000+00:00
Hermeneutik am Ende oder am Ende Hermeneutik?
Möglichkeitsbedingungen einer Hermeneutik angesichts ihrer Kritik
Philipp Stoellger
1
Hermeneutik unter Verdacht
Die Hermeneutik unter Verdacht zu stellen, ist so gängig wie naheliegend. Nicht ohne Grund, denn sie hat sich diesen Verdacht mühsam erarbeitet mit ihrem Anspruch als Universalphilosophie, Fundamentalontologie oder (mit Emmanuel Levinas formuliert) âTotalitätâ, sei es in der Tradition Platons, Georg Wilhelm Friedrich Hegels, Martin Heideggers oder Hans-Georg Gadamers. Dabei trat sie freundlicherweise meist in derart charmanter Art auf, dass Widerstand zwecklos oder schlicht sinnlos erschien - mit der Nebenwirkung, dass, wer zu widerstehen wagte, selber sinnlos oder halsstarrig und differenzbesessen wirkte.
Theoriepolitisch manifestiert sich hier das Dilemma der Universalisierung: Wer dem âSinnangebotâ einer allseits inklusiven Verständigung(stheorie) angesichts all ihrer Offenheit und Inklusivität doch noch zu widerstehen wagt, ist endgültig âdrauÃenâ, in der Hölle der Sinnlosigkeit - angeblich. Solche Universalisierung ist eine ebenso charmante wie infernale Strategie, die den Rest erzeugt, den sie doch final inkludieren wollte. In einer Neuauflage der Hermeneutik in Gestalt der erfrischend liberalen âReligion als Lebensdeutungâ kehrt dieses Dilemma wieder: Wer der liberalen Offenheit doch tatsächlich zu widerstehen wagt, kann nur ein Fundamentalist sein.1 - Wer die Rollen verteilt, beansprucht die Deutungsmacht, das Urteil über In- und Exklusion. Ob man solch einen Anspruch indes ratifiziert, bleibt noch verhandlungsbedürftig.
âHermeneutik unter Verdachtâ ist allerdings eine erstaunlich dezente Wendung. Gilt doch für viele eher âHermeneutik unter Verdiktâ: Ihr Anspruch gilt als hoffnungslos übertrieben und ihr Problemlösungspotential bestenfalls als überschaubar, so dass Hermeneutik nicht wenigen eher als Problem denn als Lösung gilt. âMorbus hermeneuticusâ (Herbert Schnädelbach) und die Kritik an der âWut des Verstehensâ (Jochen Hörisch) sind metaphorische Fassungen dieses Verdikts.2
Nur wiederholt sich womöglich im Verdikt das Verurteilte: Wird das Verdikt generalisiert, stellt es einen analogen Universalanspruch. In der Logik der Gegenbesetzung (mit Hans Blumenberg) läuft man Gefahr, in der Form der Kritik das Kritisierte zu wiederholen. Dabei wäre im Ãbrigen mit solch einem Verdikt zum âProblem des Verstehensâ noch nichts gesagt oder gewonnen. Man sollte sich daher seine Gegner mit Bedacht auswählen. Denn man wird ihnen im Laufe der Zeit immer ähnlicher. Oder mit Nietzsche: âWer seinen Gegner tödten will, mag erwägen, ob er ihn nicht gerade dadurch bei sich verewigt.â3
Die âLösungâ des sogenannten âhermeneutischen Problemsâ suchen die Kritiker gern in der Auflösung der Hermeneutik als Problem - was eine prekäre Verwechslung von Verstehen und Theorie des Verstehens anzeigt. Bei allem Theoriekonflikt sind in vivo die Praktiken längst darüber hinaus. Verstehen und Verständigung werden immer öfter immer seltener. In vielen Kontexten und Hinsichten wird Verstehen überflüssig (gemacht). Möglichst viele Bereiche unserer Kommunikation und Kultur sollen ohne Verstehen(sprobleme) funktionieren: Recht und Politik, Ãkonomie und Verkehr, womöglich auch Wissenschaft (mit Big Data und Netzwerkanalyse) und Kunst oder Religion und Technik. Und teils erfreulicher-, teils unheimlicherweise funktioniert Kommunikation oftmals ja auch durchaus ohne Verstehen. So wäre das erwünschte Ergebnis im Grenzwert: Verstehen wurde maÃlos überschätzt und wird hoffentlich möglichst âuniversalâ überflüssig. Für den vorläufigen Rest gibt es möglichst empirisch und historisch angelegte Methoden und diverse Alternativen zur Hermeneutik: Messen, Zählen und Wägen, also Rechnen in Algorithmen oder schlicht âdas Funktionierenâ von Kommunikation.
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