Gleichheit, Politik und Polizei: Jacques Rancière und die Sozialwissenschaften by Thomas Linpinsel & Il-Tschung Lim

Gleichheit, Politik und Polizei: Jacques Rancière und die Sozialwissenschaften by Thomas Linpinsel & Il-Tschung Lim

Autor:Thomas Linpinsel & Il-Tschung Lim
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Springer Fachmedien Wiesbaden, Wiesbaden


3 Die Szene der Plebejer

Rancière (2002, S. 41) nennt im Unvernehmen drei Beispiele für mögliche politische Tätigkeiten: die Sprechakte der Plebejer während des ersten Auszuges aus dem antiken Rom, die philosophischen Tätigkeiten mancher sozialistischer Arbeiter_innen des 19. Jahrhunderts und das Agieren von Demonstrant_innen und Barrikadenkämpfer_innen. Während die letzteren beiden im Verlauf des Textes nur sporadisch auftauchen, beschäftigt sich Rancière mit ersterem intensiver, indem er über eine Neuerzählung des Auszuges eine Szene konstruiert. Im Folgenden werde ich daher kurz klären, welche Rolle die Konstruktion von Szenen im Allgemeinen in Rancières Denken spielt, um dann auf die Szene der Plebejer einzugehen.

Konstruktionen von Szenen sind für Rancière wichtig, da er über das Neu-und-anders-Erzählen von Ereignissen und Handlungen den Akt der Ent-Identifizierung und die Demonstration der Gleichheit in seinem Erzählen performativ zu verlängern und somit den politischen Moment auszustellen versucht. So sind Szenen Erzählungen von Momenten des Bruchs. Um diesen jedoch nicht wieder in eine erklärende Aufteilung einzuschreiben (und damit den Bruch wieder zu kitten), trifft er zwei Vorkehrungen. Erstens geht es Rancière in der Betrachtung eines Ereignisses oder Handlung weniger um die ökonomische und soziale Verankerungen von Subjekten, um daraus ihr Handeln erklären zu können (Identifizierung). Vielmehr interessiert er sich für solches Handeln, das in diesen Kontexten entsteht, diese jedoch überschreitet, mit ihnen bricht und in Konflikt mit ihnen gerät (Ent-Identifizierung; Rancière 2016c, S. 154). Erzählungen über solches Handeln bezeichnet Rancière (2013, S. 17) auch als Gegenmythen. Zweitens geht es ihm darum, die in diesen Gegenmythen demonstrierte Gleichheit auch in der Erzählung selbst auszustellen, indem er davon ausgeht, dass Denken und Handeln nicht das Privileg einer bestimmten sozialen Gruppe ist, sondern überall stattfindet (Rancière 2016c, S. 154). Diese präfigurativ-performative Gleichheit nennt Rancière „Methode der Gleichheit“ (Rancière 2016a, S. 139). Die Szene ist also eine Erzählung von Momenten des Bruchs, der sich durch ein kontextüberschreitendes und Gleichheit demonstrierendes Handeln auszeichnet, und die versucht, diese Gleichheit präfigurativ und performativ in der Erzählung selbst umzusetzen. Eine solche Szene konstruiert Rancière um den Auszug der Plebejer aus Rom.

Die klassische Quelle der Erzählung der Sezession der Plebejer wurde von Titus Livius in Ab urbe condita Liber verfasst. Diese erzählt von dem im Jahre Jahre 494/493 v. u. Z. in Rom stattfindenden Konflikt zwischen den Patriziern (dem römischen Adel) und den Plebejern (dem Volk). Der Ausgangspunkt des Konfliktes war eine existenzielle Verschuldung großer Teile der plebejischen Bevölkerung aufgrund von Kriegseinsätzen und hoher Steuerbelastung. Schnell weitete sich der Konflikt jedoch zu einem um die politischen Ordnung Roms aus und erreichte seinen Höhepunkt mit dem Auszug der Plebejer aus Rom vor die Tore der Stadt auf den Heiligen Berg (Sacer Mons) 7. Dies setzte die Patrizier soweit unter Druck, dass sie nach Verhandlungen dazu bereit waren, den Plebejern eine eigene politische Vertretung zu gewähren, die als Gegengewicht zu den patrizischen Konsuln dienen sollten: das Tribunat.

Rancière bezieht sich bewusst nicht auf diese Standard-Quelle, sondern auf die Neuerzählung des französischen Schriftstellers Pierre-Simon Ballanche, die dieser 1829 in seiner Formule général de [l’histoire de] tous les peuples appliquée à l’histoire du peuple romain (Allgemeine



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