Gesichter: Roman (German Edition) by Schäfer Andreas

Gesichter: Roman (German Edition) by Schäfer Andreas

Autor:Schäfer, Andreas [Schäfer, Andreas]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783832187538
Herausgeber: DUMONT Buchverlag
veröffentlicht: 2013-08-21T22:00:00+00:00


11

Er hatte sich während des Wochenendes immer wieder gefragt, was die Anhörung für Reaktionen bei seinen Kollegen auslösen würde, hatte sich ihre Betretenheit vorgestellt oder ihr krankhaftes Bemühen, sich nichts anmerken zu lassen, und als er am Montagmorgen zu seinem Zimmer ging, taten tatsächlich alle, denen er begegnete, als wäre nichts gewesen, grüßten wie immer, und er nahm den Umstand als das, was er war: als Einladung, ungestört seiner Arbeit nachzugehen.

Es gab einen interessanten Neuzugang, einen halbseitig Gelähmten mit einer ungewöhnlichen, wahrscheinlich vorübergehenden Wahrnehmungsanomalie. Der Mann sah, sobald man mit ihm sprach, nur die Mundpartie des Redenden, während der Rest des Gesichts für ihn zu verschwinden schien, wie ein junger Stationsarzt Gabor berichtete. Die Erklärung des Phänomens lag auf der Hand: Die Wahrnehmung des Patienten stand nach dem vorausgegangenen Schlaganfall gewissermaßen unter Schock, registrierte nur den wichtigsten Ausschnitt und übersah den Rest, aber in dieser bizarren Ausprägung war das Phänomen selbst Gabor noch nicht untergekommen.

»Was sehen Sie genau?«, fragte Gabor. Er stand mit dem jungen Kollegen am Bett und bewegte lautlos die Lippen, um den Effekt aufrechtzuerhalten.

»Ihre Lippen, die Zähne und einen Teil Ihrer Oberlippe.«

»Und der Rest?«

Der Mann bewegte verneinend den Kopf.

»Was sehen Sie dort, wo meine Nase sein müsste?«

Der Mann schwieg.

»Keine unscharfe rosa Fläche? Und mein Haar, können Sie mein Haar sehen?«

»Der Kragen des Kittels, der ist da.«

»Also der Kittel und darüber mein sprechender Mund, ja? Aber wie? Hängt der Mund in der Luft?«

»Ich weiß es nicht. Es ist seltsam.«

Der Mann zog das Lid seines linken Auges zusammen und starrte Gabor konzentriert an, doch nach einer Weile schüttelte er den Kopf.

»Und was passiert jetzt?«, fragte Gabor, bevor er den Mund schloss.

Einige Sekunden herrschte Stille.

»Jetzt ist Ihr Gesicht wieder da.«

»Aber wie?«, fragte der Kollege neben ihm. »Erscheint das Gesicht auf einen Schlag, plötzlich oder schrittweise? Fließt es zusammen? Verstehen Sie? Das würden wir gerne wissen.«

Doch der Mann schüttelte nur den Kopf.

»Ist es das, was Sie suchen?«, fragte der junge Arzt, als sie wieder auf dem Gang standen.

»Völlig harmlose Gesichtsfeldstörungen. In drei, vier Stunden sieht er wie ein Adler.«

Während der Kollege enttäuscht abzog, klingelte das Telefon, und Gabor meldete sich, verärgert, dass er vergessen hatte, es lautlos zu stellen.

Nichts. Als wäre die Leitung tot.

»Hallo«, wiederholte er, während sein Herz stärker zu klopfen begann. Plötzlich ein Schluchzen, das ihm bekannt vorkam.

»Nele? Bist du das? Was ist passiert?«

Nach einer Weile verstand er im Schniefen den geflüsterten Satz: »Papa, kannst du kommen?«

»Was? In die Schule?«

»Ich bin hier bei dir. Im Krankenhaus.«

»Auf welcher Station? Was ist passiert?«

»Hier unten, im Foyer.« Sie wimmerte. »Bitte, kannst du kommen?«

Den Hörer ans Ohr gepresst, wandte sich Gabor um, als würde er beobachtet, aber er stand allein im Flur. Gemalte Bilder von Patienten hingen an der Wand. Weiter hinten hielt eine junge Kollegin ein Klemmbrett vor der Brust, im Gespräch mit jemandem, den er nicht sah.

»Bleib, wo du bist«, rief er.

Der Bereich vor den Fahrstühlen war leer. Als kein Aufzug kam, hämmerte Gabor auf den Knopf. Ein Pfleger schob einen Wagen mit Bettwäsche vor sich her, während Gabor das untröstliche Wimmern seiner Tochter noch immer im Ohr hatte wie den nachklingenden Ton einer Stimmgabel.



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