Geschichte des Rassismus by Christian Geulen
Autor:Christian Geulen
Die sprache: deu
Format: azw3, epub, mobi
ISBN: 9783406623806
veröffentlicht: 2013-10-28T23:00:00+00:00
Rassenkampf, Rassenmischung, Rassenerzeugung
Die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts bis zur Veröffentlichung der Darwinschen Theorie 1859 war die Epoche der wohl breitesten und vielfältigsten Verwendung des Rassenbegriffs. Historiker und Politiker, Geographen und Ethnologen, Reisende und Journalisten, Reformer und Reaktionäre, Physiologen und Anatomen, Ärzte und Biologen, Forschungsreisende und Kolonialoffiziere, Gesellschaftstheoretiker und Philosophen forschten, reflektierten und schrieben in unterschiedlichster Absicht über Rassen, Rassenmerkmale und Rassenentwicklung. Dabei bezog sich der Begriff keineswegs nur auf jene großen Menschenrassen unterschiedlicher Hautfarbe, die von den Aufklärern bevorzugt zur Aufteilung des Menschengeschlechts benannt worden waren. Vielmehr konnte Rasse ebenso als Bezeichnung einer individuellen Ausprägung von Eigenschaften, einer männlichen oder weiblichen Wesensart, eines Familienverbands, einer Nationalität, einer regionalen Kultur, einer sozialen Schicht oder sogar einer Berufsgruppe sein.
Genauso vielfältig waren die Verschränkungen dieser Bedeutungsfelder. So wurden die neuen sozialen Lebensformen in den ebenso schnell wachsenden wie verelendenden Arbeiterquartieren in London oder Liverpool von Sozialreformern und sozial engagierten Gelehrten in den gleichen rassentheoretischen Kategorien beschrieben sie Ethnologen sie zur Darstellung der kolonisierten Völker gebrauchten. Dies hing auch damit zusammen, daß der Rassenbegriff um so mehr als soziale Kategorie zur Verfügung stand, je mehr ihn Biologie und Medizin für eine Weile hinter sich ließen. Aus Sicht einer jüngeren Generation von Naturforschern und Ärzten gehörte der Rassenbegriff zu einem veralteten, idealistischen und eher naturphilosophischen als naturwissenschaftlichen Weltbild. Um so größer aber wurde seine Bedeutung als eine Kategorie zur Beschreibung der ‹Natur› von Geschichte und Gesellschaft.
Bereits 1813, und dann noch einmal 1843, betonte der englische Arzt James C. Prichard in einem mehrbändigen Werk zur physischen Geschichte des Menschen die grundsätzliche Einheit der menschlichen Gattung und schrieb die Ausprägung verschiedener Rassetypen weniger natürlichen Ursachen als den unterschiedlichen Zivilisierungsprozessen zu. Auch wenn er damit rückblickend als einer der Begründer einer nicht-biologistischen Völkerkunde gelten kann, war der Rassenbegriff immer schon zu sehr von der Vermischung biologischer und nicht-biologischer Semantiken geprägt, als daß eine solche Stellungnahme die weitgehende Biologisierung der Ethnologie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hätte aufhalten können. Wissenschaftsgeschichtlich gesehen, begründeten solche Konzepte vielmehr die später so vehement postulierte kulturelle und zivilisatorische Bedeutung der Rassenbiologie. Ein weiterer Bereich, in dem der Rassenbegriff natürliche und soziokulturelle Merkmale miteinander verband, war die zeitweise ungemein populäre Phrenologie, die Lehre von der Bedeutung der Kopfformen und Hirnregionen. In einer Kombination von Rassentheorie, Psychologie und Physiognomie reichte auch hier die Bedeutung des Rassenbegriffs von globalen Großtypen bis hinunter zu individuellen Mentalitäten.
Am beliebtesten aber war der Rassenbegriff, vor allem in England und Frankreich, nach wie vor in der Geschichtsschreibung und besonders in solchen übergreifenden Darstellungen, die in eher populärer als wissenschaftlicher Absicht geschichtliche Panoramen der langfristigen Entwicklung einzelner Völker, der europäischen oder globalen Kulturen entwarfen. Im Zentrum dieser Schriften stand nach wie vor die Idee des Rassenkampfs, der langfristigen, blutigen Auseinandersetzung zwischen kulturell wie physisch getrennten Bevölkerungssegmenten als dem wesentlichen Motor der Geschichte.
Um die Mitte des 19. Jahrhunderts gewann dann ein weiteres Motiv in dem an sich schon breiten Feld des Rassendenkens an Bedeutung und nahm rasch eine zentrale, wenn auch höchst ambivalente Stellung ein: die Rassenmischung. Darin spiegelte sich nicht nur ein weiteres intellektuelles oder ideologisches Interesse der Rassentheoretiker.
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