Geschichte der Chemie Band 2 – 19. und 20. Jahrhundert by Jost Weyer
Autor:Jost Weyer
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Springer Berlin Heidelberg, Berlin, Heidelberg
9.3 Konsolidierung des Berufsbildes in Deutschland von 1850 bis 1915
Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts erfuhr die chemische Ausbildung an den deutschen Hochschulen kräftige und stetig zunehmende staatliche Unterstützung. Auslösendes Moment war die Revolution von 1848, der mehrere Jahre schwerer Missernten vorausgegangen waren. Die Regierungen der deutschen Staaten waren der Ansicht, dass die Missernten eine der Ursachen für die Aufstände waren und dass die Chemie hier vielleicht Abhilfe schaffen könnte. So wurde Liebig als der große Theoretiker der Agrikultur und Düngelehre 1852 von König Maximiliam II. von Bayern nach München berufen mit der einzigen Auflage, dass er auf die Landwirtschaft Bayerns im Sinne von Reformen einwirken solle. Dagegen war er, wie erwähnt, von allen Lehrverpflichtungen entbunden.
Die Förderung der Chemikerausbildung in den deutschen Staaten äußerte sich in verschiedener Weise. Als Erstes sind die Neubauten von chemischen Laboratorien zu nennen, die zum Teil mit großem Aufwand ausgeführt wurden. Dadurch konnten mehr Studenten zu qualifizierten Chemikern ausgebildet werden, die auch für die allmählich wachsende chemische Industrie erforderlich waren. Der Ausbildungsgang wurde an den einzelnen Universitäten reformiert und das Liebig’sche System eingeführt. Ferner wurden an den Universitäten und den Polytechnika bzw. Technischen Hochschulen, wie man sie später nannte, neue Stellen für Chemieprofessoren eingerichtet.
Die Ausbildung einer größeren Zahl von Chemiestudenten wurde durch die Struktur des deutschen Bildungswesens begünstigt. Deutschland bestand bis zur Reichsgründung 1871 aus zahlreichen größeren und kleineren Staaten. Viele der größeren Staaten hatten eine oder mehrere Universitäten, und infolgedessen waren die Professoren und Gelehrten über das gesamte Gebiet Deutschlands verteilt. Diese Struktur förderte die Entwicklung eigener Aktivitäten, die auch dem Chemiestudium zugute kam.
Eine der Ursachen, weshalb immer mehr junge Menschen ein Chemiestudium anstrebten und absolvierten, war eine Popularisierung der Chemie, d. h. die Tatsache, dass die Chemie mit ihren Inhalten und ihrer wissenschaftlichen und wirtschaftlichen Bedeutung breiten Bevölkerungskreisen nahegebracht wurde. Dazu hatte Liebig mit seinen Chemischen Briefen und seinen sonstigen Aktivitäten entscheidend beigetragen. Hinzu kommt, dass an den immer mehr sich ausbreitenden Realschulen und Gewerbeschulen auch Chemie unterrichtet wurde. Für die Studenten, die meist aus der bürgerlichen Mittelschicht stammten, war der Beruf des Chemikers attraktiv, da er für sie einen sozialen Aufstieg bedeutete.
Bald war das Chemiestudium so beliebt, dass seit Ende der Fünfzigerjahre zeitweise ein Überangebot an Chemikern existierte. Die chemischen Firmen profitierten davon, indem sie unter vielen Bewerbern auswählen konnten und qualifizierte Kräfte für ein relativ niedriges Gehalt einstellten. Manche Chemiker, die keine Arbeit fanden, gingen ins Ausland, besonders nach England, das eine gut ausgebaute Schwerchemikalien‑ und Textilindustrie hatte. Sie waren dort wegen ihrer guten Ausbildung sehr willkommen, wie auch manche Engländer nach Deutschland kamen, um hier Chemie zu studieren. Von den ausgewanderten Chemikern kehrten viele später zurück, nachdem sich die Lage auf dem Arbeitsmarkt in Deutschland gebessert hatte und Chemiker insbesondere in der sich rasch entwickelnden Teerfarbenindustrie benötigt wurden39,40,41,42.
Im Großherzogtum Baden, wo die Revolution von 1848 gewaltsam unterdrückt worden war, führte die Regierung die Ursache auf die Missernten zurück und suchte dem in Zukunft vorzubeugen. In diesem Zusammenhang erhielt das Polytechnikum in Karlsruhe 1852 ein neues Laboratorium , wo der Lehrbetrieb nach
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