Georg - Roman by Suhrkamp-Verlag <Berlin>

Georg - Roman by Suhrkamp-Verlag <Berlin>

Autor:Suhrkamp-Verlag <Berlin>
Die sprache: deu
Format: epub
veröffentlicht: 2013-01-01T05:00:00+00:00


IX

Die letzten Monate des Jahres waren mit Separatisten-Unruhen, Streiks, Teuerungskundgebungen und Sachwerten erfüllt. Je mehr man von den Sachen sprach, desto gleichgültiger wurden sie. Es regnete lauwarm, klärte sich auf, fror, regnete wieder. Manchmal verschwand der Himmel, und eine graue Leere entstand, in der sich die Häuser schaudernd verkrochen. Wer dann unterwegs war, bekam die feindselige Verschlossenheit der Straßen zu spüren. Erst am Abend begannen sie etwas freundlicher zu werden, wenn sich die Lichter entzündeten und aus den Lokalen Musik erklang. Schwere Lebensmittelausschreitungen waren jetzt überall die Regel. Georg hatte endlich sein eigenes Zimmer in der Zeitung erhalten, ein viereckiges Loch, das wie ein Blinddarm an einem der Korridorschläuche hing und auf den Hof hinaus blickte. Obwohl der Schreibtisch größer als das ganze Zimmer war, wirkte dieses, von innen betrachtet, doch gar nicht so klein. Auf sächsischem Gebiet wurden Truppen eingesetzt, die bayrische Regierung opponierte gegen das Reich. »Ich finde das Zimmer wirklich sehr gut«, sagte Beate, die neben dem Schreibtisch saß. Sie kam nach der Universität öfters in die Zeitung, klopfte zaghaft bei Georg an, machte Augen von unten nach oben und ließ sich immer wieder versichern, daß sie nicht störe. Ihre Schüchternheit war so groß, daß sie sich nicht getraute, die Sprache fest anzupacken, sondern statt der passenden Worte lieber schwierige Umschreibungen wählte. Wahrscheinlich hatte sie erklären wollen, daß das Zimmer sehr schön sei; aber sie scheute davor zurück und bezeichnete es als gut. Sooft sie sich einer derartigen Ausflucht bediente, lachte sie hinterher verlegen. Auf der anderen Seite machte sie freilich ihre Schüchternheit dadurch wett, daß sie einen leidenschaftlichen Hang zur Öffentlichkeit bekundete, die ihr von Rechts wegen hätte Furcht einjagen müssen. Der »Morgenbote« mit seinen Druckfahnen, Neuigkeiten und Redakteuren übte eine unwiderstehliche Anziehungskraft auf sie aus, und je berühmter irgendein Künstler war, desto sehnlicher wünschte sie sich ihm persönlich zu nähern. Besonders glücklich war sie darüber, daß sie in Georgs Zimmer einmal den Theaterkritiker Ohly kennen lernte; denn er hing ja mit ihrem heißgeliebten Theater zusammen, das sie zweifellos auch deshalb vergötterte, weil sie selber gern mutterseelenallein auf der Bühne gestanden hätte und vom Publikum gefeiert worden wäre. Ohly drang seit jener ersten Begegnung ein paar mal in Georgs Zimmer ein, wenn er Beate dort wußte. »Nur auf einen Sprung«, sagte er entschuldigend, blieb aber während des Sprungs einfach in der Luft schweben und war nicht zu vertreiben. In der Gesellschaft Beates entfaltete er eine solche Lieblichkeit, daß man fortgesetzt in die Versuchung geriet, ihm über die seidigen Haare zu streichen oder an seinem Schlips zu zupfen, der schief wie ein Mützchen über die Hemdfläche jonglierte. Ein Nesthäkchen. Er hielt eine Uraufführung für wichtiger als jedes politische Ereignis und ging bei Ottilie Bürgel ein und aus, der neuen jungen Schauspielerin, die das ganze Entzücken Beates erregte. Nie genug konnte sie von der Bürgel hören. Dank dem linden Organ, über das Ohly verfügte, war auch alles, was er erzählte, gleich wunderschön eingewickelt. Beate dagegen platzte nicht selten mit einer unnatürlich lauten Stimme heraus, die offenbar dem Bedürfnis entsprang, ihre inneren Hemmungen zu bezwingen.



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