Ein neues Jahr im Möwenweg by Kirsten Boie

Ein neues Jahr im Möwenweg by Kirsten Boie

Autor:Kirsten Boie [Boie, Kirsten]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783862740673
Herausgeber: Oetinger E-Books
veröffentlicht: 2013-01-10T16:00:00+00:00


Zita-Sybill hat natürlich die ganze Zeit in der Ecke gesessen. Mit ihrer Krücke konnte sie ja nicht tanzen. Sie hat aber trotzdem ganz zufrieden ausgesehen. Da hab ich ihr noch ein Glas Sekt gebracht und sie hat sich gefreut.

Plötzlich hat Tieneke sich so an mich rangeschlichen und mir auf die Schulter getippt. Sie hat kein Wort gesagt, aber ich wusste trotzdem gleich, was sie wollte.

Wir sind also ganz leise die Treppe nach oben geflitzt und nach draußen zum Garagenplatz. Unsere Jacken haben wir uns nicht extra angezogen. Wir wollten ja nur mal ganz kurz nach Rambi gucken gehen. Petja hatte die Garage nicht abgeschlossen. Wir haben also die Tür hochgeschoben und das Licht angeschaltet. Und da saß der kleine Rambo ganz friedlich in seiner Spielzeugkiste und seine Barthaare haben überhaupt nicht mehr gezittert. Ich hatte vorsichtshalber ein paar von den Karottensticks und Gurkensticks eingesteckt, die Mama immer für uns Kinder schneidet, und darüber hat er sich auch wirklich gefreut. Vielleicht war er schon ausgehungert nach der ganzen Zeit ohne Futter zuerst unter Rubens Bett und dann auch noch auf dem Rathausplatz.

Als wir in den Keller zurückgekommen sind, hat Michael gerade den großen Tapeziertisch aufgeklappt. (Für eine Feier sah er mit all den alten Kleisterflecken und Farbflecken und festgebackten Tapetenfetzen vielleicht nicht so schön aus. Aber Michael hat gesagt, für das, was jetzt kommt, muss der Tisch auch mal was aushalten können, da ist ein Tapeziertisch genau richtig.) Dann hat er eine Schüssel mit Wasser daraufgestellt und eine Kerze und da wusste ich schon, was jetzt kommen würde.

»Bleigießen!«, hab ich gerufen.

Und das haben wir dann wirklich gemacht.

Wie Bleigießen geht, weiß ja wohl jeder. Zuerst legt man so ein kleines Bleiteil auf einen extra schäbigen Löffel. (Man kann die Bleistücke in Kartons kaufen, gleich mit Löffel dazu. Aber bei uns zu Hause hebt Mama immer das Blei vom letzten Jahr auf, das nehmen wir dann wieder, weil es billiger ist. Und es geht genauso gut.) Dann hält man den Löffel über die Kerze und ganz plötzlich – flupp! – wird aus dem harten Blei eine Flüssigkeit, die glänzt silbrig. Ist das nicht merkwürdig? Es schmilzt aber nur. Aber bei so einer harten Sache wie Blei kann man das doch kaum glauben.

Dann kippt man das Blei in die Schüssel mit dem Wasser und es zischt und dampft ganz fürchterlich und das Blei wird wieder hart. Und wenn man es dann aus dem Wasser holt, muss man rauskriegen, ob es aussieht wie eine Schlange oder wie ein Buch oder wie eine Feder oder wie noch irgendwas anderes. Das bedeutet dann, dass man im nächsten Jahr reich wird oder eine weite Reise macht oder den Mann seines Herzens findet oder lauter verschiedene Sachen. Es ist sehr aufregend.

Wir Kinder durften anfangen, hat Michael gesagt. Aber wir sollten vorsichtig sein. Wenn man Bleispritzer abkriegt, ist das alles andere als lustig. Das wussten wir aber sowieso.

Petja hat sich natürlich mal wieder als Erster den Löffel geschnappt. Er hat gesagt, bei solchen Sachen geht es logisch immer nach dem Alter.



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