Drei Minuten mit der Wirklichkeit by Fleischhauer Wolfram

Drei Minuten mit der Wirklichkeit by Fleischhauer Wolfram

Autor:Fleischhauer, Wolfram [Fleischhauer, Wolfram]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 978-3-426-41670-9
Herausgeber: Knaur eBook
veröffentlicht: 2012-03-20T23:00:00+00:00


17

Pablo ließ sie herein.

Tagsüber sah das Haus sehr viel freundlicher aus. Die Ausmaße dieses Anwesens hatte sie gestern Nacht durch den Stromausfall überhaupt nicht richtig wahrgenommen. Jetzt sah sie, dass der Innenhof prächtig bepflanzt war. Handtuchgroße Blätter ragten aus verwachsenen Büschen, deren Namen Giulietta nicht kannte. Sie hatte schon einmal einen Bananenbaum in einem botanischen Garten gesehen, aber das Zeug hier sah anders aus. Doch im Grunde war ihr völlig egal, was hier wuchs. Sie wollte Lindsey sprechen. Und Lindsey war nicht da. Pablo, ein junger, gut aussehender Bursche, von dem sie bereits durch Lindsey wusste, dass er die Zimmer dieses Hauses wochenweise an Tango-Touristen untervermietete, bestand jedoch darauf, sie möge hereinkommen und wenigstens einen Mate trinken. Es sei doch viel zu heiß, um draußen in der Stadt herumzulaufen.

Sie nahm das Angebot an, bat jedoch statt Mate um einen Saft. Vielleicht würde Lindsey ja gleich zurückkommen? Pablo wusste nicht, wo sie war. Er wusste nie, wo seine Mieter sich herumtrieben. Sie schliefen üblicherweise bis mittags um zwölf. Dann frühstückten sie bis um zwei und übten anschließend im Garten ihre neu gelernten Tango-Schritte. Danach besuchten sie ihre Kurse, fuhren dann in diese oder jene practica, gingen Abendessen und tauchten kurz nach Mitternacht in der jeweils aktuellen milonga auf. Vor fünf Uhr morgens kamen sie nie zurück. Warum heute alle schon um drei verschwunden waren, wusste er nicht.

»Tanzt du auch Tango?«, fragte er sie.

Giulietta schüttelte den Kopf und trank ihr Glas Apfelsaft leer, das Pablo ihr hingestellt hatte. »Nein. Überhaupt nicht. Ich mache hier Urlaub.«

Pablo schaute sie skeptisch an, verfolgte die Frage jedoch nicht weiter.

»Und du bist aus Berlin. Hat Lindsey mir erzählt.«

»Ja. Du hast hier Gäste aus der ganzen Welt, oder?«

Pablo grinste. »Tango sells. Japan. USA. Holland. Deutschland. Türkei. Israel. Was noch fehlt, sind Eskimos und Vietnamesen. Aber das kommt auch noch. Ich muss bald anbauen.«

»Japan? Tango? Verrückt!«

»Ja. Völlig verrückt. Aber soll dort sehr populär sein. Noch ein Schluck?«

Er goss ihr nach, ohne die Antwort abzuwarten.

»Und du, auch ein Tanguero?«

»Do you think I’m crazy?« Er prustete los.

Sie schaute ihn an und dachte: No. Maybe not you. But everybody else.

Pablo war blond. Er hatte ein hübsches Gesicht, aber das Schönste an ihm war, dass er ihr keinerlei Avancen machte. Er war nur freundlich zu ihr, ohne das geringste Anzeichen von irgendwelchen Hintergedanken. Nach dem sexuellen Dauerfeuer der letzten Tage auf den Straßen von Buenos Aires machte sie das fast ein wenig misstrauisch. Vielleicht hatte er eine ähnliche Orientierung wie Lindsey.

Sie plauderten eine Weile. Dann klingelte das Telefon. Pablo ging dran und begann ein Gespräch auf Spanisch. Giulietta hörte, dass ihr Name fiel. Dann reichte Pablo ihr den Hörer.

»Giulietta?«

Es war Lindseys Stimme.

»Toll, dass du gekommen bist. Ich bin in einer Stunde da. Pablo soll dir mein Zimmer aufschließen. Du musst das sehen. Die Kassette ist noch im Videorecorder. Du hast da etwas Sagenhaftes entdeckt, weißt du das?«

»Lindsey, ich fliege nach Hause. Ich werde morgen umbuchen.«

Es wurde kurz still in der Leitung.

»Warte bitte auf mich, ja? Ich muss unbedingt mit dir reden. Und es tut mir Leid wegen gestern.



Download



Haftungsausschluss:
Diese Site speichert keine Dateien auf ihrem Server. Wir indizieren und verlinken nur                                                  Inhalte von anderen Websites zur Verfügung gestellt. Wenden Sie sich an die Inhaltsanbieter, um etwaige urheberrechtlich geschützte Inhalte zu entfernen, und senden Sie uns eine E-Mail. Wir werden die entsprechenden Links oder Inhalte umgehend entfernen.