Die Schreie der Verwundeten by Ritter Henning
Autor:Ritter, Henning
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783406645570
Herausgeber: C.H.Beck
veröffentlicht: 2015-04-18T16:00:00+00:00
Mitleid und Grausamkeit
Angesichts der Propagierung des Mitleids als einer sozialen Tugend traf Schopenhauers Behauptung, als erster die Ethik allein auf das Mitleid gegründet zu haben, weniger für seine Zeit als für die Geschichte der Philosophie zu. In ihr hatte das Mitleid ein Aschenputteldasein geführt und in die Ethik kaum je Eingang gefunden. Berühmt ist der Verweis, den Kant in der Kritik der praktischen Vernunft dem Mitleid erteilte: «Selbst dies Gefühl des Mitleids und der weichherzigen Teilnehmung, wenn es vor der Überlegung, was Pflicht sei, vorhergeht und Bestimmungsgrund wird, ist wohldenkenden Personen selbst lästig, bringt ihre überlegten Maximen in Verwirrung und bewirkt den Wunsch, ihrer entledigt und allein der gesetzgebenden Vernunft unterworfen zu sein.» Nach Kants Ansicht wurde die Integrität des moralischen Handelns durch Mitleid und Sympathie so sehr gestört und verwirrt, daß es sich gegen mitleidige Gefühle verschloß und eher wie Mitleidlosigkeit erscheinen wollte, als sich diesen Impulsen zu überlassen.
Schopenhauer war über Kants Kult des Rigorismus der Moral entsetzt und hat trotz seiner Verehrung des Philosophen nie verhehlt, daß er darin einen verhängnisvollen Irrtum sah, durch den die philosophische Ethik letztlich um ihren Erfolg gebracht wurde. Die in der akademischen Philosophie vorherrschende Pflichtenethik Kants erschien Schopenhauer als eine «Apotheose der Lieblosigkeit». Während er in der theoretischen Philosophie überall auf Kant aufbaute, glaubte er in der Ethik ohne Vorläufer zu sein. Die einzige Ausnahme war Rousseau, der einzige Vorläufer seiner Ethik. Auf ihn berief er sich als auf den «größten Moralisten der ganzen neueren Zeit, den tiefen Kenner des menschlichen Herzens, der seine Weisheit nicht aus Büchern, sondern aus dem Leben schöpfte, und seine Lehre nicht für das Katheder, sondern für die Menschheit bestimmte, er, der Feind der Vorurteile, der Zögling der Natur, welchem allein sie die Gabe verliehen hatte, moralisieren zu können, ohne langweilig zu sein, weil er die Wahrheit traf und das Herz rührte.»
Obwohl Schopenhauer glaubte, mit seiner Mitleidsmoral allein zu stehen, spielte das Mitleid im Moralbewußtsein der Zeit eine Schlüsselrolle. In dem zur Mitleidsreligion umgeschaffenen Christentum war das Mitleid, wie bei Schopenhauer, das Maß für den Wert der moralischen Gefühle. Seine Fehde mit der akademischen Moralphilosophie verschleierte ihm die Tatsache, daß er mit seiner Mitleidsethik im Strom der Zeit schwamm. Originell dagegen war seine Begründung für die Rolle des Mitleids in seiner Ethik. Er sah im Mitleid die einzig wirksame Gegenkraft gegen die Grausamkeit, die böswillige Verletzung des «wahren reinen Inhalts der Moral». Diesen Inhalt der Moral formulierte er in seinem einzigem Imperativ: «Verletze niemanden, sondern hilf allen, so viel du kannst.» Als rücksichtslose Verleugnung dieses Grundsatzes war die Grausamkeit mit ihrer Maxime «Schade allen, so viel du kannst» der Inbegriff des Bösen und eine Verkehrung des wahren Inhalts der Moral. Die Moral, die Schopenhauer vorschwebte, war letztlich nichts anderes als eine Antwort auf Bosheit und Grausamkeit, die sich «die Leiden und Schmerzen anderer zum Zweck an sich» machten, dessen Erreichen für sie ein Genuß war.
Grausamkeit und Mitleid waren das Thema der Abhandlung Über die Grundlagen der Moral, die Schopenhauer 1840 bei der Königlichen Dänischen Sozietät der Wissenschaften in Kopenhagen als Preisschrift einreichte, die aber nicht den erhofften Erfolg hatte.
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