Die Schattenbucht by Eric Berg

Die Schattenbucht by Eric Berg

Autor:Eric Berg
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Limes Verlag


Auf den ersten Blick erfüllte Marlene Adamski die wichtigsten Kriterien einer typischen Witwe, die gerade ihren Mann verloren hatte: Sie trug Schwarz, wirkte betrübt und bot jedem, der zum Kondolieren vorbeikam, Kaffee und Kuchen an. Ina, die ebenfalls eingeladen und somit halb privat und halb beruflich vorbeigekommen war, zählte innerhalb einer halben Stunde viermal dieselbe Frage von vier Besuchern, nämlich wie es nun mit der Bäckerei weitergehen werde. Als sie hörten, dass die Bäckerei schließen werde, sahen sie noch trauriger aus als die Witwe.

»Bringen sie mich irgendwo anders hin«, bat Marlene Ina, als gerade mal kein Besucher da war. »Danke, dass Sie sich die Zeit nehmen, aber rechnen Sie sie auch bitte ab.«

»Machen Sie sich darüber keine Gedanken.«

Ina fuhr mit ihr zur Steilküste in Ahrenshoop, einem ihrer Lieblingsorte auf dem Darß. Tief hängende Wolken jagten über das endlose Meer, und die jungen Seeschwalben probierten ihre gerade erst erworbenen Flugkünste aus. Der Wind zerrte an den letzten Blüten der wilden Hagebutten am Wegesrand und an Inas langen Haaren. Marlenes vom Spray gestählte Frisur hielt hingegen mühelos den frischen Böen stand.

Dem Meer reckte sie das Gesicht entgegen, während sie Ina ihr Herz ausschüttete.

»Damals, als ich mit Gerd frisch verheiratet war, hatte ich von unseren späteren Jahren immer ein romantisches Bild vor Augen: zwei Schwäne oder Enten, die Seite an Seite übers Wasser gleiten. Entsetzlich kitschig, ich weiß, wie aus einem Roy-Black-Lied, aber so war’s nun mal. Ich habe mich damals schon auf die Zeit des völlig miteinander Vertraut-Seins gefreut. Sie wissen schon, das berühmte Rentnerpaar auf der Parkbank.«

Die beiden Frauen schwiegen eine Weile, vielleicht um zwei Spaziergänger passieren zu lassen, vielleicht weil es Marlene ungeheuer schwerfiel, das Folgende auszusprechen.

»Diesen Zustand haben wir leider nie erreicht. Wir hatten zwar das Haus, die Bäckerei und das Dorfleben, außerdem ein paar gemeinsame Freunde, gemeinsame Routinen … Aber unsere Vertrautheit war nie wie bei einem Schwanenpaar, sondern eher wie bei Zahnrädern. Alles griff ineinander, trotzdem war da keine Wärme. Ich weiß nicht, wie ich es sonst beschreiben soll. Gerd hatte Fehler und Eigenarten, so wie jeder Mensch. Ab und zu hat er beim Stammtisch ein paar Schnäpse zu viel getrunken, er hat oft angegeben und sich insgeheim in unserer Ehe immer für den Chef gehalten. All das hat mich nie wirklich gestört. Er war kein schlechter Mensch, sondern ein zuverlässiger Bäcker und verlässlicher, treuer Ehemann. Aber wenn ich ehrlich bin, war ich die meiste Zeit nur deshalb noch mit ihm zusammen, weil ich nicht allein sein wollte.«

»Vielen von uns fällt es leichter, an einem bestehenden Zustand festzuhalten, auch wenn er nicht befriedigend ist, anstatt sich auf etwas Neues, Ungewisses einzulassen. Die Routine, in der Sie gelebt haben, hat Ihnen Halt und Sicherheit gegeben.«

»Bis zu dem einen Tag im letzten Jahr. Ich stand im Wohnzimmer und habe dabei zugesehen, wie Gerd sein Nickerchen hielt. Sein Kugelbauch hat sich beim Einatmen ausgedehnt, die Lippen haben beim Ausatmen gebebt, die Zeitung auf seiner Brust ist Zentimeter um Zentimeter verrutscht. Auf einmal kam es mir so vor, als würde ich auf einem Boot stehen, das sich langsam von dem Steg entfernt, auf dem Gerd zurückblieb.



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