Die letzte Welt. Roman by Christoph Ransmayr
Autor:Christoph Ransmayr [Ransmayr, Christoph]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783104032054
Herausgeber: FISCHER E-Books
veröffentlicht: 2014-09-08T16:00:00+00:00
VIII
Echo kam nicht wieder. Der zweite Tag ohne ein Zeichen von ihr verging; der dritte. Eine Woche lang suchte Cotta vergeblich nach der Verschwundenen. Träge lag die eiserne Stadt in der Hitze der Zeit und schien nicht zu bemerken, daß eine ihrer Frauen fehlte. Den Branntweiner rührte eine Abgängige nicht: Gestern Dienstbotin, heute Dorfhure und morgen auf und davon, lallte Phineus in seinem Keller, in dem es noch immer nach der Maische der Sturmnacht roch; aber vielleicht habe die Schuppenfrau ein gutes Beispiel gegeben – ein Kaff wie Tomi betrete und verlasse man wohl am besten ohne Zeichen und Gruß.
Echos Höhle wurde geplündert. Im Verlauf einer einzigen Nacht verschwanden alle Geschenke der Freier, die rostigen Eisenbarren, Töpfe voll ranziger Butter, die Wollzöpfe und Vliese … Und was vom Hausrat die Plünderung unversehrt überstand, zerschlug schließlich ein Tobsüchtiger: Marsyas, ein Köhler, der drei- oder viermal im Jahr aus seinem Tal und dem Rauch seiner Meiler an die Küste herabkam, hatte sich mit Phineus betrunken und dann eine lange Nacht umsonst auf die einzige Frau gewartet, die nicht vor ihm geflohen war. Er schrie im leeren Dunkel der Höhle nach ihr und geriet über die Unerfüllbarkeit seiner Erwartungen in eine solche Wut, daß er zertrat und zerschlug, was noch nicht zertreten und zerschlagen war.
Von der Wucht seiner eigenen Tritte gegen die Felswand zu Boden geworfen, kroch er schließlich über die Scherbensaat und zerschnitt sich Hände und Gesicht, hockte dann blutend, jammernd in der Finsternis und blies, als er sich beruhigte und wieder zu Atem kam, auf zwei leeren Schnapsflaschen wie auf einer Panflöte. Es klang, als käme ein Schiff aus dem Berg. Diese Nachtmusik und der heulende Gesang, den der Köhler zwischen den Nebelhorntönen anstimmte, brachte die Bewohner der Nachbarhäuser um den Schlaf. Als Tereus der Schlachter im Morgengrauen sein Hoftor aufschlug und fluchend durch die Gasse hinaufkeuchte, um den Betrunkenen endlich zum Schweigen zu bringen, glich Echos Höhle keiner menschlichen Behausung mehr. Schon am Eingang schlug Tereus der Gestank von Scheiße entgegen. Das Gesicht blutverkrustet, zwei von seinem Speichel glänzende Flaschenhälse ans Kinn gepreßt, lag Marsyas in seinem Kot; der Boden war schwarz gefleckt von seinem Blut. Um ihn herum war alles Unrat.
Tereus packte den Hilflosen, schleifte ihn unter Fausthieben und Tritten an den Füßen zu einer Viehtränke hinaus, riß ihn hoch, warf ihn ins trübe Wasser und ging die Gasse hinab, ohne sich noch einmal umzusehen. Händeringend, unverständliche Besänftigungen flüsternd, kam Procne ihrem Mann entgegen. Er stieß sie zur Seite, schlug das Hoftor hinter sich zu.
Der dicken Frau des Schlachters hatte Marsyas es an diesem Morgen zu verdanken, daß er nicht in einem Steintrog ertrank. Schluchzend, beschämt von der Gewalttätigkeit ihres Mannes, zerrte sie den besinnungslosen Köhler aus der Tränke, tätschelte sein Gesicht mit ihren rot geschwollenen Händen, bis er die Augen aufschlug, bettete ihn aufs Pflaster, breitete die Decke, die sie um ihre Schultern getragen hatte, über ihn, der schon wieder in den Schlaf gesunken war, und schob ihm seine Stiefel unter den Kopf. So ließ sie ihn zurück.
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