Die Lebenden und die Toten by Nele Neuhaus

Die Lebenden und die Toten by Nele Neuhaus

Autor:Nele Neuhaus
Die sprache: deu
Format: epub, azw3, mobi
Herausgeber: Ullstein eBooks
veröffentlicht: 2014-08-28T16:00:00+00:00


Sonntag, 30. Dezember 2012

Trübes Zwielicht sickerte durch die Ritzen der Rollläden, als Bodenstein die Augen aufschlug und darauf wartete, dass sich sein Verstand von den letzten Resten verwirrend realistischer Träume löste. Selten beschäftigten ihn die Fälle, an denen er tagsüber arbeitete, auch nachts, aber diesmal hatten sich einige jener Menschen, die ihn und sein Team seit Tagen vor Rätsel stellten, in seine Träume geschlichen, als ob sie ihm etwas mitteilen wollten. Er wälzte sich auf den Rücken und genoss die völlige Stille im Haus. Kein Kind, das nach ihm rief, kein Hund, der spazieren geführt werden wollte. Und auch keine Inka. Das Bett neben ihm war unberührt. Sie hatte ihm am späten Nachmittag per SMS mitgeteilt, dass sie zu einem Notfall nach Limburg müsse und nicht absehen könne, wie spät es werde. Da sie ihn nicht wecken wolle, würde sie zu Hause übernachten. Die Fadenscheinigkeit ihrer Begründung bedrückte Bodenstein, denn in der Vergangenheit war sie oft genug mitten in der Nacht zu ihm gekommen, schließlich hatte sie einen Haustürschlüssel. Warum tat sie das? Was war geschehen? An Weihnachten schien noch alles in bester Ordnung gewesen zu sein, und plötzlich zog sie sich von ihm zurück. Fühlte sie sich nicht genug von ihm beachtet? Oder hatte sie gar Zweifel an einer gemeinsamen Zukunft mit ihm bekommen? Er wusste ja, dass sie ein Problem mit Sophia hatte, aber er hatte gehofft, das Band zwischen ihnen sei stark genug, um damit fertig zu werden. Mit Cosima hatte es früher häufig kleinere Streits und Diskussionen gegeben, mit Inka gab es überhaupt keine Auseinandersetzung. Sie schwieg einfach, wenn ihr etwas nicht passte. Was er von Anfang an für Harmonie gehalten hatte, erschien ihm nun mehr und mehr als Folge ihrer Konfliktunfähigkeit, schlimmer noch: ihres Desinteresses. Inka war stolz und unabhängig, sie hatte ihr ganzes Leben lang keine längere Partnerschaft gehabt und offenbar nichts vermisst, wieso sollte sich das jetzt, mit Anfang fünfzig, geändert haben? War es ihr zu eng geworden mit ihm, zu verbindlich? War er ihr zu langweilig? Bodenstein warf einen Blick auf die Digitalanzeige seines Weckers. Acht Uhr. Heute Morgen wollte er Fritz Gehrke einen Besuch abstatten, um mit ihm ganz behutsam über die Vorwürfe aus der Todesanzeige des Richters zu sprechen. Er setzte sich auf, schwang die Beine über den Bettrand und ging duschen.

Warum hatte Inka ihm nicht auf seine Gute-Nacht-SMS geantwortet?

Was war das zwischen ihm und ihr? Liebe war es wohl kaum, auf jeden Fall nicht jenes tiefe, warme, herzklopfende Gefühl, das er so lange für Cosima empfunden hatte, auch wenn es nicht unbedingt auf Gegenseitigkeit beruht hatte. Die Beziehung von Inka und ihm war nicht aus stürmischer Verliebtheit und Leidenschaft entstanden, sondern hatte sich eher nebenbei ergeben, eine alte Zuneigung, die durch die Ehe ihrer Kinder wieder aufgelebt war. Jeder von ihnen hatte seine Arbeit und sein Leben, und es hatte nie ein bewusstes Bekenntnis zueinander, eine ausdrückliche Entscheidung gegeben. Inka war sukzessive bei ihm eingezogen, und er hatte akzeptiert, dass sie das nie in letzter Konsequenz getan hatte, indem sie ihr Haus vermietete und damit ihre Partnerschaft offiziell machte.



Download



Haftungsausschluss:
Diese Site speichert keine Dateien auf ihrem Server. Wir indizieren und verlinken nur                                                  Inhalte von anderen Websites zur Verfügung gestellt. Wenden Sie sich an die Inhaltsanbieter, um etwaige urheberrechtlich geschützte Inhalte zu entfernen, und senden Sie uns eine E-Mail. Wir werden die entsprechenden Links oder Inhalte umgehend entfernen.