Die Jesuitin von Lissabon by Titus Müller

Die Jesuitin von Lissabon by Titus Müller

Autor:Titus Müller
Die sprache: de
Format: mobi, epub
Tags: Belletristik/Historische Romane, Erzählungen
Herausgeber: Aufbau
veröffentlicht: 2011-08-07T13:09:46+00:00


20

Tropfen platzten auf Anteros Haut. Schließlich setzte leise rauschender Regen ein. Er spülte ihm beißenden Puder in die Augen. Antero riss sich die Perücke vom Kopf. Was bedeutete an Tagen wie diesen schon das korrekte Äußere! Das Unglück offenbarte ja, was sie mit geschäftiger Alltagsroutine zugedeckt hatten: Sie waren sterblich. Jeden Tag konnte ihre Existenz zu Ende sein.

Er war dankbar, dass er atmete. Er war dankbar für die Rinnsale des Regenwassers, die über den staubigen Boden rannen. Er war dankbar für den sauren, frischen Geruch der Luft. All das zeigte ihm, dass er lebte.

Würde Kohlenabrieb bei Regen an einem Stein haften bleiben? Am besten, er ritzte die Worte ein. Dann blieben sie einige Tage lesbar. Ihm knurrte der Magen. Aber er ging eilig weiter. Die Eltern durften nicht in den Ruinen graben. Er musste sie warnen.

Der Regen zog wie ein glitzerndes Tuch über die Ruinen. Warum waren die Häuser eingestürzt? Wenn sich durch die Wellenwirkung die Erdoberfläche anhob und eine schiefe Ebene bildete, und die Gebäude deshalb zusammenfielen – wo waren dann die Risse? Wo waren die Schluchten? Um Häuser umzuwerfen, musste die Neigung beträchtlich sein. Oder war es die Schüttelkraft, die sie einstürzen ließ?

Wenn es die Neigung gewesen sein sollte, müsste immer noch etwas davon zu sehen sein. Denn sobald ein Teil der Erdoberfläche seine natürliche Lage verließ und sich neigte, musste er sich irgendwo vom Rest der Erde losreißen. Hob sich ein Stück Erde von vierundzwanzigtausend Fuß Länge um nur fünf Grad, dann musste es sich auf einer Seite um tausend Fuß unter den angrenzenden Teil der Erde senken, auf der anderen Seite aber um tausend Fuß über ihn erheben. Ein Beben müsste enorme Verschüttungen hervorrufen. Es müsste Erdwälle aufwerfen.

Das Regenwasser lief ihm den Nacken hinunter. Möglicherweise wackelte gar nicht die Erde selbst, sondern es wirkte nur die Schwerkraft in einer gewissen Region schief auf die Erdoberfläche. Um das zu untersuchen, musste man herausfinden, wie die Schwerkraft genau funktionierte und wo sie herkam. Nur dann konnte er feststellen, ob es möglich war, dass sie ihre Stabilität einbüßte. Ihn erwartete viel Arbeit.

Er blieb stehen. Das war die Straße der Engländer gewesen. Dann war der Trümmerhaufen dort einmal sein Zuhause. Eine Hütte stand an seinem Rand: zwei Wände von aufeinandergestapelten Steinbrocken, eine Rückwand aus Holzteilen, und ein Dach von Segeltuch. Antero ging um die Hütte herum. Regen trommelte auf das Segeltuchdach. Von vorn war die Hütte offen, es gab keine Tür.

Der Stiefvater stand drinnen.

»Sie sind schon zurückgekehrt!«, rief Antero aus.

»Ja.«

»Darf ich reinkommen?«

»Meinetwegen.«

Antero zwängte sich neben den Engländer in den engen Raum. Er ließ die Perücke auf den Boden klatschen und strich sich mit beiden Händen das Wasser aus dem Haar. Der Stiefvater trug Schürfwunden, war sonst aber nicht verletzt. »Warum sind Sie nicht länger auf dem Land geblieben? Der Premierminister will alle zurück in die Stadt befehlen, aber bis das geschieht, ist das Überleben auf dem Land sicherer als hier. Wo ist Mutter?«

Der Stiefvater schwieg.

Antero erstarrte. Er konnte sich nicht rühren. Das Prasseln des Regens war plötzlich ein kaltes, hässliches Geräusch.



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