Die Henkerin by Sabine Martin
Autor:Sabine Martin [Martin, Sabine]
Die sprache: deu
Format: epub, mobi
Herausgeber: babylon
veröffentlicht: 2012-05-15T04:00:00+00:00
***
Dietrich Vulpes verlagerte das Gewicht seines Körpers auf das andere Bein. Seit Stunden hielt er Wache vor dem Schelkopfstor, und obgleich bislang alles still geblieben war, war er nicht einen Augenblick unaufmerksam gewesen. Wenn der Nachtwächter ihn auf seiner Runde passierte, drückte er sich so tief in die Hausecke, dass er beinahe mit der Mauer verschmolz, und genauso verfuhr er, wenn ein verspäteter Gast aus dem »Alten Landmann« vorbeitorkelte. Der »Alte Landmann« lag ganz in der Nähe des Tores und war die schäbigste Spelunke in Esslingen, in der sich auch nach der Sperrstunde noch allerhand Gesindel traf, doch um diese Zeit war es selbst hinter der mächtigen Eichentür dieser Wirtsstube ruhig geworden.
Daran, was im Schelkopfstor vor sich ging, schien niemand interessiert zu sein. Der letzte Besucher war der Kürschnermeister Karl Schedel gewesen, der kurz nach Anbruch der ersten Stunde der Nacht im Inneren des Kerkers verschwunden und wenig später wieder vor dem Tor aufgetaucht war. Seither hatte Dietrich niemanden in der Nähe des Tores gesehen.
Er wollte sich gerade einen Schluck aus seinem Weinschlauch genehmigen, als er eine Gestalt ausmachte, die sich vom Markt her vorsichtig näherte, als wolle sie auf keinen Fall entdeckt werden. Er hielt den Atem an und starrte angestrengt ins Dunkel, konnte aber nicht erkennen, um wen es sich handelte. Offenbar wollte der Unbekannte zum Schelkopfstor.
Als die Gestalt in den Lichtkegel der Wachstube geriet, hätte Dietrich beinahe überrascht gepfiffen. Was in aller Welt wollte der Henker um diese Zeit im Kerker? Handelte er auf Anweisung des Rates, oder verfolgte er einen eigenen Plan? Dietrich wusste, dass so mancher Henker es sich gut bezahlen ließ, wenn er seinen Schützlingen den Aufenthalt in seiner Obhut ein wenig angenehmer machte, sie mit Speisen und Wein versorgte oder gar mit einem willigen Mädchen. Über den Esslinger Henker hatte er dergleichen jedoch nie erzählen hören.
Der Büttel, der Melchior die Tür öffnete, schien nicht weniger erstaunt zu sein. Nach einigen Fragen ließ er den Henker achselzuckend ein und verriegelte die Tür von innen. Vermutlich vermochte er die Worte auf Melchiors Wachstafel nicht zu lesen und war unsicher, ob der Henker mit einem offiziellen Auftrag gekommen war.
Dietrich bedauerte es, dass ihm kein Blick auf die Tafel gewährt gewesen war. Und dass der Kerker nicht wenigstens ein kleines Fenster hatte. So blieb ihm keine Möglichkeit, herauszufinden, was der Henker vorhatte. Vielleicht konnte er wenigstens einen Blick in die Wachstube erhaschen. Leise verließ Dietrich sein sicheres Versteck.
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