Die Geschichte von Gott 4000 Jahre Judentum, Christentum und Islam by Karen Armstrong
Autor:Karen Armstrong [Armstrong, Karen]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783629320469
Herausgeber: Knaur e-books
veröffentlicht: 2014-06-15T22:00:00+00:00
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Der Gott der Mystiker
Die jüdische Religion, die christliche Religion und – in geringerem Maße – der Islam haben übereinstimmend die Vorstellung entwickelt, es gebe einen personalen Gott. Daher neigen wir dazu, dieses Ideal für die höchste Form von Religion zu halten. Die Vorstellung eines personalen Gottes hat die Monotheisten dazu gebracht, die heiligen und unveräußerlichen Rechte des Individuums hochzuachten und der individuellen Persönlichkeit große Bedeutung beizumessen. Auf diese Weise hat die jüdisch-christliche Tradition dazu beigetragen, dass der im Westen so geschätzte liberale Humanismus entstehen konnte. Die entsprechenden Werte verkörperte ursprünglich ein personaler Gott, der handelt und sich verhält wie ein Mensch: Er liebt, urteilt, straft, sieht, hört, bringt hervor und zerstört wie wir. Jahwe war anfänglich ein stark personalisierter Gott mit leidenschaftlichen menschlichen Neigungen und Abneigungen. Später wurde er ein Symbol der Transzendenz mit Gedanken, die nicht mehr unsere Gedanken waren, und Verhaltensweisen, die so hoch über unseren menschlichen Gedanken standen wie der Himmel über der Erde. Der personale Gott spiegelt eine wichtige religiöse Erkenntnis wider: Kein höchster Wert kann hinter dem Maß des Menschlichen zurückbleiben. Daher war der Glaube an einen personalen Gott ein wichtiges und – für viele – unverzichtbares Stadium der Entwicklung von Religion und Moral. Die Propheten Israels schrieben ihre eigenen Gefühle und Leidenschaften Gott zu; Buddhisten und Hindus kamen ohne eine persönliche Verehrung von Avataren (Inkarnationen des Göttlichen) nicht aus. Das Christentum stellte in einer in der Religionsgeschichte einmaligen Weise einen Menschen ins Zentrum der Religiosität, es führte die im Judentum angelegte Vorstellung von einem personalen Gott bis zum Extrem. Vielleicht kann Religion ohne einen gewissen Grad solcher Identifizierung und Einfühlung keine Wurzeln schlagen.
Doch die Vorstellung eines personalen Gottes barg große Nachteile in sich. Der personale Gott kann zu einem bloßen Idol werden, zu einem Abbild unserer selbst, einer Projektion unserer begrenzten Bedürfnisse, Ängste und Wünsche. Wir können ihm unterstellen, dass er liebt, was wir lieben, und hasst, was wir hassen, so dass er unsere Vorurteile bestärkt, anstatt uns dazu zu bewegen, dass wir sie überwinden. Wenn der Eindruck entsteht, er unterlasse es, eine Katastrophe zu verhindern, oder wolle sogar eine Tragödie, dann wirkt er schnell hart und grausam. Der oberflächliche Glaube, ein Unglück sei von Gott gewollt, kann uns veranlassen, dass wir uns mit vollkommen unannehmbaren Dingen abfinden. Schon allein die Tatsache, dass Gott als Person ein Geschlecht zugeordnet wird, bedeutet eine Begrenzung: Sie bewirkt, dass die Geschlechtlichkeit der männlichen Hälfte der Menschheit auf Kosten der Frauen geheiligt wird, und kann zu einer neurotischen und unangemessenen Ungleichheit in der menschlichen Sexualmoral führen. Ein personaler Gott kann somit gefährlich sein. Anstatt uns über unsere Grenzen hinauszuführen, kann »er« uns dazu ermuntern, dass wir uns selbstzufrieden innerhalb dieser Grenzen einrichten; »er« kann uns ebenso grausam, hart, selbstgefällig und parteiisch machen, wie »er« zu sein scheint. Anstatt das Mitgefühl in uns zu wecken, das ein Kennzeichen jeder hochentwickelten Religion sein sollte, kann »er« uns dazu ermutigen, dass wir urteilen, verurteilen und ausgrenzen. Offenkundig kann die Vorstellung, es gebe einen personalen Gott, nur ein Durchgangsstadium unserer religiösen Entwicklung sein.
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