Die Dynamik des Tötens: Die Ermordung der Juden von Berditschew. Ukraine 1941-1944 (Die Zeit des Nationalsozialismus) by Michaela Christ

Autor:Michaela Christ [Christ, Michaela]
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Fachbücher, Geschichtswissenschaft, Neuzeit, Nationalsozialismus, Holocaust, Staatenwelt, Europa, Polen, Russland, Ukraine, Politik & Geschichte, Deutsche Geschichte, Das Dritte Reich, Judenverfolgung & Holocaust, Geschichte nach Ländern, Allgemein
ISBN: 9783104013046
Herausgeber: Fischer e-books
veröffentlicht: 2011-11-08T23:00:00+00:00

Jagd

Der Massenmord an den Juden in der Sowjetunion – der »Holocaust by bullets«, wie ihn Pater Desbois nennt[450] – war ohne Beispiel. Fraglich ist, wie die Genese der Verfolgungs- und Tötungspraxen war. Wo nahmen die Täter Anleihen an bestehenden Verfolgungsstrategien, wo mussten sie improvisieren und wie formten Organisation und Improvisation die Praxen der Tötungsarbeit? »Sie haben es so gemacht: sie haben die Menschen gejagt, dann war Ruhe, dann haben sie wieder gejagt.«[451] Es überrascht wenig, wenn Opfer wie Zislia Skakun über die Exekutionen als (Treib-)Jagden sprechen. Juden wurden verfolgt, man fahndete nach ihnen, sie waren auf der Flucht, gehetzt und immer auf der Suche nach Orten, an denen sie sich verbergen konnten – dass sie sich gejagt fühlten, ist somit kaum verwunderlich. Betrachtet man das Vorgehen der Deutschen genauer und sieht auf die Details, so fällt auf, dass dieses als Jagd zu bezeichnen nicht nur eine Metapher der Verfolgten war, sondern sich im Ablauf der Massenexekutionen tatsächlich Aspekte der Jagd auf Tiere, wie Jäger und Förster sie betreiben, identifizieren lassen.[452] Parallelen zur Jagd zeigten sich zum Beispiel in der Rollenverteilung zwischen deutschen Besatzern und einheimischen Zuarbeiter/innen. Sie glich der zwischen Jägern und Treibern. Bei einer Jagd ist eine Gruppe dafür zuständig, mit lauten Geräuschen, oft mit Hilfe von Hunden, das Wild aufzuschrecken und auf die Schützen zuzutreiben, dabei darauf achtend, dass die Tiere nicht zur Seite hin ausbrechen können, sondern zu den Schützen laufen. Während die Treiber das Wild aufscheuchen, ist es die Aufgabe der Jäger, es zu erlegen.[453] Ähnlich wie die Rollen- und Aufgabenverteilung zwischen Jägern und Treibern gestaltete sich die zwischen Deutschen und Ukrainern. Während die ukrainischen Polizisten beim Zusammentreiben und der Selektion der Opfer, bei der Bewachung des Weges und auch beim Absperren des Geländes zentrale Aufgaben übernahmen, hatten die Deutschen die alleinige Verantwortung und Kontrolle für die Ereignisse am unmittelbaren Tatort selbst: Sie sammelten die Wertsachen der Opfer ein, führten die Menschen zu den Gruben und, was am wichtigsten ist, sie waren es, die töteten. In der Aufteilung der Aufgaben wird hier die Hierarchie zwischen den machtausübenden Akteuren sichtbar: Während die Zuarbeiten zur Vernichtung wesentlich von den Ukrainern erledigt wurden, blieb das eigentliche Töten den Deutschen vorbehalten. Das heißt, die wichtigste Aufgabe verrichteten sie. Diese Arbeitsteilung hatte gewiss sicherheitstechnische Hintergründe. Für die Aufrechterhaltung der sozialen Ordnung, die durch die Gewalt mit geschaffen wurde, war es notwendig, die Gewalt einzuschränken beziehungsweise in kontrollierbaren Bahnen zu halten. Allzu viele Einheimische mit Waffen auszustatten, war vermutlich nicht das, was den Deutschen in diesem Stadium der Besatzung ratsam schien. Doch mehr noch als solche Überlegungen scheint das Schießen an den Gruben auch deshalb in den Händen der Deutschen geblieben zu sein, weil es der ›Höhepunkt‹ des gesamten Geschehens war. Der Punkt, auf den hin alle anderen Tätigkeiten ausgerichtet waren.[454] Die Hierarchie innerhalb eines arbeitsteilig durchgeführten Prozesses lässt sich anhand der Verteilung der Aufgaben erkennen. Sowohl die Verteilung der Macht, als auch welche Aufgaben als besonders wichtig erachtet werden und mit besonderer Bedeutung aufgeladen sind, ist daran zu erkennen, wer sie ausführt.

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