Der kleine Vogel by Rohini Singh
Autor:Rohini Singh [Singh, Rohini]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Herder Verlag, Freiburg im Breisgau
veröffentlicht: 2016-12-22T23:00:00+00:00
Das Nachtlicht sah heute aus wie eine Spalte von einer Wassermelone, dachte Shona, als sie im Dunkeln lächelte. Plötzlich merkte sie, wie die Wolke aus Rastlosigkeit, unter der sie seit Tagen lebte, von sanfter Zufriedenheit und Entspannung abgelöst wurde.
11
Es war noch dunkel, aber Shona war schon auf und hatte ihr Zuhause verlassen. Sie wiegte sich auf einem Ast draußen und sah die blinzelnden Lichter am Himmel an, die jetzt eins nach dem anderen ausgingen. Dann flog sie zu einer ihrer Lieblingsstellen: der Spitze des hohen Turms. Dort saß sie und schaute auf den Garten hinunter, der im Halbdunkel noch schlief. Es war ganz still. Langsam, während sie beobachtete, wie der Himmel heller wurde, kehrte alles ins Leben zurück, wie Marionetten, deren Fäden jemand aufnimmt. Ein neuer Tag hatte begonnen. Aber heute war es kein Tag wie eine süße Mango, die nur darauf wartete, genossen zu werden. Shona rief sich zur Ordnung, wie sie es oft tat.
»Was ist los mit dir?«, schalt sie sich selbst. »Warum bist du so griesgrämig?«
»Ich bin nicht griesgrämig, ich finde nur keine Ruhe. Und ich verstehe gar nicht, warum. Das stört mich.«
»Na ja, du hast auch vorher schon keine Ruhe gefunden. Und jetzt lässt du dich richtig gehen. Du nervst!«
»So fühle ich mich auch.«
»Dann hör auf damit.«
Normalerweise halfen diese Selbstgespräche. Aber heute förderten sie nur noch den ruhelosen, mürrischen Teil in ihr. Ohne an ihr Frühstück zu denken, flog sie heim und legte sich wieder ins Bett.
Die Tage vergingen, verschwammen ineinander. Shona fühlte sich, als hätte sie sich verirrt. Nicht einmal mit der anderen Shona wollte sie sprechen. Auch ihren Freunden fiel es auf.
»Was ist denn los mit dir?«, fragte Tango. »Du bist gar nicht richtig du selbst.«
»Machst du dir über irgendwas Sorgen, Shona?«, fragte Mango und legte liebevoll einen Flügel um sie. »Kann ich dir helfen?«
Shona hatte keine Antwort für sie. Sie wusste ja selbst nicht, wo das Problem lag. Den »Besucher«, der schon die ganze Woche ihr Inneres in Aufruhr brachte, hatte sie auch nicht gesehen. Aber als sie gerade anfing zu glauben, sie hätte ihn sich nur eingebildet, tauchte er wieder auf. In diesem Moment wusste sie, dass sie sich gar nichts eingebildet hatte. Ihr Herz schlug so schnell und laut, dass sie dachte, alle anderen müssten es hören. Sie versteckte ihre Aufregung hinter einer gleichgültigen Miene, schaute weg und tat, als wäre sie sehr beschäftigt damit, ihren Schnabel zu wetzen. Plötzlich jedoch spürte sie eine Bewegung auf dem Ast neben sich. Er war zu ihr gekommen und gleich neben ihr gelandet.
»Hallo!«, sagte er. »Schön, dich wiederzusehen.«
»Oh, hallo«, erwiderte Shona. »Haben wir uns schon mal gesehen?«
»Ich bin Zorro«, sagte er und ignorierte ihre Frage. »Und wie ist dein Name?«
Er hat einen Namen, dachte Shona bei sich. Wie kommt er an einen Namen? Nach ihrem Erlebnis mit Mango und Tango hatte sie niemanden mehr nach seinem Namen gefragt. »Ich bin Shona«, sagte sie und rang um Fassung. Zu gern hätte sie ihn gefragt, wo und wie er einen Namen erhalten hatte, aber sie riss sich zusammen.
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