Der Junge, der Gedanken lesen konnte by Kirsten Boie

Der Junge, der Gedanken lesen konnte by Kirsten Boie

Autor:Kirsten Boie
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Verlag Friedrich Oetinger, Hamburg
veröffentlicht: 2012-08-28T00:00:00+00:00


Ich hatte »Du Arschloch!« geschrien und mich auf die Knie fallen lassen, um zu suchen; und Artjom hatte zuerst noch gelacht, aber dann hatte er mir bei der Suche geholfen, und als der Zahn nicht wieder auftauchen wollte, als wäre er einfach zu einem weiteren Steinchen geworden zwischen den vielen anderen kleinen Steinen auf dem Boden, hatte er sich entschuldigt und mich in den Arm genommen und versucht, mich zu trösten.

»Das wollte ich doch nicht, Zwerg, ich schwöre!«, hatte er gesagt. »Ist doch gar nicht so schlimm! Man sieht doch an der Lücke, dass du schulreif bist!«

Aber ich hatte mit meinen Fäusten auf ihn eingetrommelt und mich nicht in den Arm nehmen lassen und »Du Scheiße! Du Scheiße!« geschrien.

Dann hatte ich ihn angespuckt und war weggerannt, und ich hatte Artjom so gehasst, dass ich ihm die schrecklichsten, furchtbarsten Sachen gewünscht hatte. Weil er immer, immer über mich lachte und nie verstand, wie wichtig die wichtigen Sachen waren, und weil er alles besser konnte und besser wusste und weil er jetzt schuld war, dass ich meinen Beweiszahn nicht mehr hatte. Ich wollte ihn nie mehr wiedersehen, niemals mehr.

Und so ist es dann ja auch gekommen. Dieser Streit über den Zahn auf unserem Hof war das letzte Mal, dass ich Artjom gesehen habe.

Ich habe gespürt, wie eine Träne an meiner Nase entlang nach unten gekullert ist. Aber alte Leute können nicht mehr gut gucken. Ich glaube nicht, dass Herr Schmidt etwas bemerkt hat.

»Nein, mein Jung, das bist du auch nicht«, hat er ganz leise gesagt. Ich musste erst nachdenken, um mich zu erinnern, dass das seine Antwort auf meinen letzten Satz war. »Entscheiden tut der da oben. Da sollen wir uns mal gar nicht einbilden, dass wir so mächtig sind. Ich bin nicht schuld, dass meine Else gestorben ist, und du bist auch nicht schuld, egal bei wem. Willst du ein Taschentuch?«

Vielleicht hatte er doch etwas gesehen. Oder mein langes Schweigen war ihm merkwürdig vorgekommen.

Ich habe mich in sein graues Stofftaschentuch geschnäuzt. Deduschka hatte auch immer solche.

Und als sie es mir erzählt hatten, war ich dann auch nicht traurig genug gewesen. Man muss doch traurig sein, wenn der eigene Bruder stirbt! Aber ich hatte mir nur gewünscht, dass Babuschka endlich aufhören sollte zu weinen und dass Mama endlich aufhören sollte, wütend zu sein, und Papa so fürchterlich still. Und ich war böse auf Artjom, weil er mir nun nicht nur meinen Zahn geklaut hatte, sondern auch noch schuld daran war, dass bei uns nichts mehr so war wie früher und alle mich behandelten, als wäre ich eine lästige Fliege; aber ganz plötzlich nahmen sie mich dann in den Arm und schluchzten und drückten mich so fest, dass ich zwei Minuten später bestimmt erstickt wäre, wenn ich mich nicht freigezappelt hätte. Und wenn ich böse geworden bin und gesagt habe, dass ich jetzt aber endlich mal was zu essen haben wollte oder fernsehen oder was, haben sie mich nur angebrüllt. Nicht jedes Mal, aber oft. Da hatte ich manchmal gedacht, dass es Artjom ganz recht geschah, wenn er jetzt tot war.



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