Der Holocaust by Frank Bajohr & Andrea Löw
Autor:Frank Bajohr & Andrea Löw [Bajohr, Frank]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783104033822
Herausgeber: FISCHER E-Books
veröffentlicht: 2015-03-03T16:00:00+00:00
Die österreichische Forschung hat sich ebenfalls – wie oben beschrieben – mit den Handlungsstrategien der Juden befasst, doch sind für die meisten anderen annektierten Gebiete nach wie vor weiße Flecken zu verzeichnen, zumal selbst der Prozess der Judenverfolgung dort nur partiell erforscht ist.[355] Ein Großteil der dortigen jüdischen Einwohner floh bereits vor der Annexion, sei es individuell oder kollektiv organisiert. Je nach Gebiet emigrierten sie – wie die deutschen Juden auch – erst einmal in die Nachbarländer, beispielsweise nach Frankreich, Polen oder Litauen. Nach der Annexion konzentrierten sich alle Bemühungen bei jüdischen Individuen wie Organisationen auf die Auswanderung, wobei aus dem »Protektorat« anfangs nur in Prag lebende Juden emigrieren konnten.[356] Wichtige Hinweise geben die fundierten vergleichenden Einleitungen und Dokumente der entsprechenden Bände der Edition »Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden«.[357] Ähnliches gilt für die besetzten westeuropäischen Länder, die Beneluxländer, Frankreich, Dänemark und Norwegen. Die seit 1996 von Wolfgang Benz und Juliane Wetzel unter dem Titel »Solidarität und Hilfe für Juden während der NS-Zeit« herausgegebenen Bände geben erste Überblicke, die zu weiteren Forschungen anregen sollten.[358]
In den oben genannten Ländern lebten – mehr oder weniger in die Gesellschaften integriert – kleinere oder größere jüdische Gemeinschaften sowie dorthin geflohene deutsche, österreichische bzw. sudetendeutsche Juden, deren Zahl die der einheimischen teilweise sogar überstieg. Die einheimischen jüdischen Gemeinschaften und die ausländischen Hilfsorganisationen hatten in der Regel bereits vor der deutschen Besetzung die Flüchtlinge materiell unterstützt, während sie gleichzeitig deren Weiterwanderung betrieben.[359] Nach dem Einmarsch der deutschen Truppen wurden unterschiedliche Besatzungsregime installiert und in den Niederlanden, Belgien und Frankreich Judenräte gegründet. Deren Haltung und Tätigkeiten wurden bisher selten Gegenstand der deutschen Forschung. Doch sind sie in Einzelstudien erforscht,[360] die mittlerweile (auch ohne Übersetzungen) Eingang in die immer internationaler werdende Holocaust-Forschung gefunden haben. Yehuda Bauer hat Handlungsstrategien vergleichend beschrieben, die hier nur kursorisch wiedergegeben werden können:[361] Er konstatiert, dass die Niederlande als einziges Land einen Generalstreik als Protest gegen die Verfolgung der Juden ausgerufen hatten – der ausgerechnet durch Appelle des Judenrats abgebrochen wurde. Dem Amsterdamer Judenrat bescheinigt Bauer zwar die Tendenz, sich den deutschen Forderungen unterzuordnen, hebt aber auch seine Weigerung hervor, ab Sommer 1942 zu den »Arbeitseinsätzen« (Deportationen) aufzurufen. Als einzige Alternative blieb für die Juden das Untertauchen im Versteck. Von 140000 Juden verbargen sich ungefähr 25000, von denen nur rund 16000 überlebten; die anderen wurden denunziert oder von den deutschen Besatzern entdeckt.
Der belgische Judenrat führte die deutschen Befehle zunächst aus, aber als den Beteiligten dann Zweifel an der Version der »Arbeitstransporte« in den Osten kamen, widersetzten sie sich ebenfalls. Verhaftungen der jüdischen Repräsentanten folgten, doch kamen diese durch Intervention der Königin wieder frei. In Belgien forderte die katholische Kirche ihre Mitglieder offen auf, Juden zu verbergen. Im Gegensatz zu den Niederlanden existierte hier auch ein bewaffneter Untergrund. Der Judenrat sowie die bewaffnete und die unbewaffnete Untergrundbewegung kämpften gemeinsam, teilweise sogar in Personalunion. Jüdische Kommunisten und Zionisten, die sich in einem Komitee zusammengeschlossen hatten, arbeiteten als Teil der Untergrundbewegung. Ihr Netzwerk erstreckte sich über das gesamte Land. So konnten vor allem Kinder, aber auch erwachsene Juden versteckt werden.
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