Der Duft des Regenwalds by Zapato Rosa

Der Duft des Regenwalds by Zapato Rosa

Autor:Zapato, Rosa [Zapato, Rosa]
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: 20.jahrhundert, mexiko, geheimnis
Herausgeber: Piper ebooks
veröffentlicht: 2013-01-03T23:00:00+00:00


»Als ich in Ciudad de México ankam, da kaufte ich mir erst einmal ein Paar Schuhe«, erzählte Andrés, während er jenen Schraubenzieher, den sie aus Dr. Scarsdales Utensilien entwendet hatte, dazu benutzte, eine weitere Steinfigur von einer dicken Kalkschicht zu befreien. »Mein Patron hatte mir etwas Geld auf die Reise mitgegeben, in erster Linie für Nahrung. Was ich sonst noch brauchte, sollte ich mir irgendwie selbst verdienen. Ich zog es vor zu hungern, um mich nicht zu blamieren. Keiner der anderen Studenten trug gewöhnliche Huaraches. Doch ich hatte keine Ahnung, wie unbequem festes Schuhwerk ist. In meinem winzigen Zimmer lief ich die ganze Nacht lang auf und ab, um mich daran zu gewöhnen. Trotzdem musste ich die Zähne zusammenbeißen, um nicht zu humpeln, als ich den Unterrichtsraum betrat. Gekichert wurde dennoch, denn für einen Anzug hatten meinen finanziellen Reserven nicht gereicht.«

Alice zog staunend die Brauen hoch, denn sie hatte Männerkleidung immer für bequem gehalten.

»Ist es denn angenehmer, barfuß zu laufen?«

»Allerdings, wenn man es von Kindheit an gewöhnt ist. Ich hatte dicke Hornhaut an den Füßen, stabiler als Leder. Die widersetzte sich und protestierte schmerzhaft, als sie derart eingezwängt wurde. Andrew, mein amerikanischer Freund, riet mir schließlich, sie mit einem kleinen Messer abzuschälen. So wurden die Schuhe für mich erträglich. Und irgendwann brauchte ich sie. Ich war stolz darauf. Ich war ein Señor geworden.«

Alice nahm dies nickend zur Kenntnis. Das bisherige Leben dieses kupferfarbenen Mannes hatte sich in den letzten Nächten langsam zu einer zusammenhängenden Geschichte gefügt, die ihr spannend schien. Sie wusste, dass Andrew sein Studienkollege gewesen war, dessen Eltern ihm keine Ausbildung in den Vereinigten Staaten bezahlen konnten und deshalb die billigere Variante jenseits der Grenze gewählt hatten, wo es mütterlicherseits Verwandtschaft gab. Andrew und Andrés, zwei Namensgenossen, hatten einander geholfen, in einer Welt voll fremder Gebräuche und gesellschaftlicher Gruppen, von denen sie ausgeschlossen waren, zurechtzukommen. Der Indianer übersetzte für den Nordamerikaner, wodurch er selbst Englisch lernte. Der überließ ihm abgelegte, zerschlissene Anzüge, die in Hörsälen immer noch akzeptabler waren als die übliche Indio-Kleidung. Ebenso wie sie selbst hatte Andrés allein in einer feindseligen Wirklichkeit überleben müssen.

Er wusste inzwischen von ihrer großen Angst, nach der Flucht aus dem Elternhaus als Straßenmädchen zu enden, jener Zukunft, die der Vater ihr zum Abschied prophezeit hatte. Wie Frauen, die sie einst verachtet hatte, ihr aber geholfen hatten, eine Anstellung im Café Josty zu finden, wo ihr damenhaftes Auftreten gern gesehen war. Dass sie langsam hatte lernen müssen, ledige Mütter um ihren Kampfgeist zu bewundern, anstatt sie als gefallen zu verachten. Wie sehr ihre ganze Wahrnehmung der Welt sich Stück für Stück verschoben hatte, ebenso wie die seine, auch wenn die Richtung völlig anders gewesen war.

Seit zwei Wochen trafen sie sich regelmäßig in der kleinen Ruine. Julio nahm es hin, ohne Fragen zu stellen. Modesta warf Alice manchmal neugierige Blicke zu, doch ihr Spanisch reichte nicht für Fragen. Alice schlief morgens etwas länger als am Anfang, aber Dr. Scarsdale schien das kaum zu bemerken. Danach überreichte sie ihm jene Figuren, die sie angeblich selbst in den Ruinen entdeckt hatte, während sie Zeichnungen anfertigte.



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