Der dreizehnte Monat by Mitchell David

Der dreizehnte Monat by Mitchell David

Autor:Mitchell, David [Mitchell, David]
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Belletristik/Gegenwartsliteratur (ab 1945)
Herausgeber: Rowohlt E-Book
veröffentlicht: 2015-11-05T16:00:00+00:00


Einen kurzen Augenblick lang beobachteten wir das zuckende Herz eines Eichhörnchens.

Im nächsten war es verschwunden.

Madame Crommelynck sagte: «Sieh mich an.»

«Das tue ich doch.»

«Nein. Du tust nicht. Setz dich her.»

Ich setzte mich auf ihre Fußbank. (Ich überlegte, ob Madame Crommelynck einen Butler hat, weil mit ihren Beinen was nicht stimmt.) «Okay.»

«Verstecke dich nicht in deine ‹Okay›. Näher. Ich beiße Jungen nicht die Köpfe ab. Nicht mit ein volle Magen. Sieh hin.»

Es gibt eine Regel, die sagt, man soll nicht zu intensiv in das Gesicht anderer Leute starren. Madame Crommelynck befahl mir, sie zu brechen.

«Sieh genauer hin.»

Ich roch Veilchenpastillen, Stoff, ein schweres Parfüm und etwas Fauliges. Dann geschah etwas Unheimliches. Die alte Frau verwandelte sich in ein Es. Seine Tränensäcke und Lider hingen schlaff herunter. Seine Brauen waren zu Stacheln verklebt. Deltas aus roten Äderchen schlängelten sich durch das fleckige Augenweiß. Die Irisse waren milchig wie lange vergrabene Murmeln. Pudrige Schminke überzog die mumifizierte Haut. Die knorpelige Nase versank in seinem Schädel.

«Siehst du Schönheit hier?», fragte es mit falscher Stimme.

Meine Manieren verlangten, dass ich ja sagte.

«Lügner!» Es wich zurück und wurde wieder zu Madame Crommelynck. «Vor dreißig, vierzig Jahren, ja. Meine Eltern formten mich auf die herkömmliche Weise. So wie dein Töpfer seine Vase. Ich wuchs zu ein junges Mädchen heran. In Spiegeln, meine schönen Lippen sagten zu meinen schönen Augen: ‹Du bist ich.› Männer ersannen Listen, kämpften, betrogen und beteten, verschwendeten Geld für kostbare Geschenke, nur um zu ‹gewinnen› diese Schönheit. Meine Zeit aus Gold.»

In einem fernen Zimmer wurde gehämmert.

«Aber die menschliche Schönheit fällt Blatt für Blatt. Zu Beginn man merkt es nicht. Man sagt sich: Nein, ich bin nur müde oder Heute ist einfach ein schlechter Tag. Aber später man kann dem Spiegel nicht mehr widersprechen. Tag für Tag für Tag es fällt, bis nichts mehr übrig ist als diese vieille sorcière, die nimmt die Zaubermittel der Kosmetik, um sich anzunähern den Gaben von ihrer Geburt. Oh, die Leute sagen: ‹Die Alten sind noch immer schön!› Sie sind herablassend, sie schmeicheln, vielleicht sie wollen trösten sich selbst. Aber nein. Die Wurzeln von die Schönheit sie werden gefressen von eine …» Madame Crommelynck ließ sich erschöpft in den knarrenden Thron zurücksinken. «Eine, wie sagt ihr, die Schnecke ohne Haus?»

«Eine Nacktschnecke?»

«Eine unersättliche, unsterbliche Nacktschnecke. Wo zum Teufel sind meine Zigaretten?»

Die Schachtel war neben ihren Füßen. Ich gab sie ihr.

«Geh jetzt.» Sie wandte den Blick ab. «Komm wieder nächsten Samstag, drei Uhr, ich werde dir mehr Gründe nennen, warum deine Gedichte scheitern. Oder komm nicht wieder. Einhundert andere Arbeiten warten.» Madame Crommelynck nahm Le grand Meaulnes, fand die richtige Stelle und fing an zu lesen. Ihr Atem klang pfeifender als vorhin, und ich fragte mich, ob sie vielleicht krank war.

«Danke, also dann …»

Meine Beine waren eingeschlafen.

Aber für Madame Crommelynck hatte ich den Wintergarten schon verlassen.

***

In den Lavendelbüschen schwebten zugedröhnte Puschelbienen. Der staubige Volvo stand noch in der Auffahrt und musste immer noch dringend gewaschen werden. Ich hatte Mum und Dad auch diesmal nicht gesagt, wo ich hinging. Wenn ich ihnen von Madame Crommelynck



Download



Haftungsausschluss:
Diese Site speichert keine Dateien auf ihrem Server. Wir indizieren und verlinken nur                                                  Inhalte von anderen Websites zur Verfügung gestellt. Wenden Sie sich an die Inhaltsanbieter, um etwaige urheberrechtlich geschützte Inhalte zu entfernen, und senden Sie uns eine E-Mail. Wir werden die entsprechenden Links oder Inhalte umgehend entfernen.