Das Zimmer by Andreas Maier

Das Zimmer by Andreas Maier

Autor:Andreas Maier [Maier, Andreas]
Die sprache: deu
Format: mobi, epub
Herausgeber: Suhrkamp Verlag
veröffentlicht: 2012-07-02T22:00:00+00:00


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J. erreicht eine Stadt in sanftem Niedergang. Hier war früher der Zar gewesen, im selben Bahnhof stieg er aus, man hatte ihm ein eigenes Zarenbad errichtet, da durfte sonst niemand hinein (heute kann man es besichtigen). Allerdings war der Zar nach ein paar Jahren dann auch schon tot, erschossen in Rußland. Bis heute reden sie in Bad Nauheim von ihm, als hätten sie ihn noch gekannt, persönlich und von Tür zu Tür, wie mein Onkel Elvis Presley kannte. Wie der Zarensohn ganz in Weiß auf seinem Fahrrad durch den Kurpark … wie die Zarenfamilie hochherrschaftlich im Wagen auf der Promenade … ein so netter, ein so freundlicher Herr, man kam aber nicht ran, er war ja immerhin Zar, Leibgarde, stets flankiert, und welche Cafés hat er aufgesucht? Ging er ins Mirwald (gab es das schon?), ging er zum Aliceplatz ins Café Müller (hängen da nicht Bilder von ihm?), oder blieb er den Cafés fern? Trank er Apfelwein? Vielleicht trank erst ein Vorkoster Apfelwein, oder jemand von seiner Leibgarde, um sicherzustellen, daß das auch ja nicht ein Anschlag auf die körperliche Unversehrtheit des Zaren … und dann haben sie den Leibgardisten einer genauen Untersuchung unterzogen, haben beobachtet, was passiert, was der Apfelwein so tut. Noch keine Wirkung? Dann schnell noch ein Glas (Schoppen) hinein in den Leibgardisten. Weiter beobachten! Da sitzt er, der Leibgardist, der russische, in Bad Nauheim in der Wetterau (seit über einem halben Jahrhundert war es da schon Kurbad), auf einem Sessel möglicherweise oder nur einem Holzstuhl, vielleicht muß er auch stehen, und horcht in sich hinein, was passiert, denn er weiß ja gar nicht, was das ist, dieser Apfelwein, vielleicht hat das ein Bad Nauheimer ersonnen, um alle zu töten, die ganze Zarenfamilie, und alle Bad Nauheimer haben sich nur verschworen und tun so, als tränken sie immer Apfelwein, dabei ist es Gift? Und jetzt springt er auf, der Leibgardist, und hat die Hand schon am Hosenbund und rennt davon, wo sind denn hier die Klosetts? Ganz schnell rennt er. Und der Zar, so viel ist sicher, wird niemals in seinem Leben Apfelwein trinken, man rät ihm ab. Einige Jahre später ist er trotzdem tot, und in Bad Nauheim empfinden sie Trauer, lief er doch vor kurzem noch hier herum, durch den Park. Der arme Zar. Keiner kannte ihn. Alle reden von ihm. Eine öffentliche Figur. Was wäre Bad Nauheim ohne seine öffentlichen Figuren? Die depressive Sissi, die man nicht fotografieren durfte, so alt war sie schon! Wohnte in der Burgallee, wo jetzt ein Betonhaus steht, viergeschossig. Mein Onkel steht am Bahnhof, an dem schon der Zar stand, und schaut über den Sprudelhof und seine beiden Sprudel hinauf zum Johannisberg, genau wie der Zar. Rechts an den Johannisberg schließt sich der Frauenwald an, da geht mein Onkel gern hin. Links steigt der Winterstein empor, vielleicht steht 69 schon der Sendeturm auf ihm. Das fasziniert meinen Onkel: wenn er den Fernseher anschaltet, weiß er, das Bild kommt vom Winterstein. Auch die Störungen im Sendegebiet genießt er, dann erscheint



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