Das Scheitern Mitteleuropas by Walter Rauscher
Autor:Walter Rauscher [Rauscher, Walter]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Verlag Kremayr & Scheriau GmbH & Co. KG, Wien
veröffentlicht: 0101-01-01T00:00:00+00:00
Tschechoslowakische Projekte
Besonders in der Tschechoslowakei erkannte man nach und nach die negativen Auswirkungen von Hochschutzzöllen und Autarkiebestrebungen für die Ökonomie Mitteleuropas. War die egoistische Wirtschaftspolitik nach dem Krieg und der Auflösung der Habsburgermonarchie noch begründbar, schien es Prag mittlerweile für eine Annäherung und schließlich eine echte Kooperation der Nachfolgestaaten an der Zeit. Im Wege einer Arbeitsteilung sollte dabei ein großes Wirtschaftsgebiet einer gegenseitigen Interessengemeinschaft geschaffen werden. Aus wirtschaftlichen Gründen, aber auch aufgrund antirevisionistischer Motive begannen Frankreich und die Tschechoslowakei 1927 verstärkt, Ideen zum wirtschaftlichen Wiederaufbau Mitteleuropas zu ventilieren. Masaryk etwa führte darüber mit Stresemann beim Völkerbund in Genf ein längeres Gespräch. Die Nachfolgestaaten sollten sich demnach untereinander wirtschaftlich verbinden, „so wie es früher gewesen sei“, gab der Außenminister den Staatsgründer wieder. „Sie gehörten zueinander und müssten wieder miteinander verbunden sein.“36
An oberster Stelle der Überlegungen in Prag stand freilich stets die Frage: Mit oder ohne Frankreich, mit oder ohne Deutschland? Beneš folgte dem französischen Plan, der auf eine „Art von Donauföderation“ abzielte, „wobei aber der Name beileibe nicht ausgesprochen werden darf“. Diese Konzeption suchte „eine möglichst enge Zusammenarbeit der Tschechoslowakei mit Österreich herbeizuführen, die gewissermaßen die Urzellen bilden sollen für ein späteres Konglomerat von Staaten, welches durch den Anschluss zuerst Jugoslawiens, dann Ungarns und Rumäniens, vielleicht aber auch Polens, gebildet werden soll“. Naturgemäß hatte die wirtschaftliche Frage auch eine politische Seite, „da eine Zollunion in Mitteleuropa zwangsläufig auch zu einer politischen Einheit führen würde, da sie eine gemeinsame Wirtschafts- und Finanzpolitik voraussetzt“. Dies implizierte freilich eine definitive Absage Österreichs an den Anschluss, eine Abkehr Ungarns vom Revisionismus und den Abschluss eines „Ost-Locarno“ mit der Kleinen Entente, die wiederum ihrerseits die Furcht vor einer Habsburgerrestauration und dem Entstehen eines pangermanischen Mitteleuropa ablegen musste. Dieses System der ökonomischen Kooperation bezog sich letzten Endes auf den Raum zwischen dem Deutschen Reich und Russland, den Masaryk einmal als die „europäische Gefahrenzone“ bezeichnet hatte, und setzte sich demnach aus sechs selbständigen Staaten mit einer Gesamtfläche von rund 1.250.000 km2 und 85 Millionen Einwohnern zusammen.37
Als eine alternative Konzeption galt jene des Ministerpräsidenten Švehla, die auf eine Kombination mit Deutschland hinauslief. Der Regierungschef war zwar, wie der österreichische Gesandte in Prag analysierte, „von Natur aus überzeugter Nationalist. Dieser Nationalismus geht aber nicht so weit, dass er nicht praktischen, gerade herausgesagt, geschäftlichen Erwägungen zugänglich wäre. Der Ministerpräsident kalkuliert so: in Frankreich ist für die Tschechoslowakei nichts zu holen: Frankreich benützt die Republik zwar politisch, für die tschechoslowakische Wirtschaft stehe es aber an Bedeutung weit hinter Deutschland und Österreich zurück. Verdienen und Geschäfte machen, den Nationalreichtum mehren, könne die Tschechoslowakei nur mit Deutschland und in enger wirtschaftlicher Anlehnung an dieses. Deshalb müsse die auswärtige Politik der Tschechoslowakei sich nach Deutschland und Österreich orientieren.“38 Für die Kombination Švehlas trat auch eine starke Gruppe innerhalb der österreichischen Industrie ein, die bereits zu Ansprechpartnern in der Tschechoslowakei Kontakt aufgenommen hatte.
Staatspräsident Masaryk erwog gemeinsam mit dem einflussreichen Bankmanager Jaroslav Preiss noch eine dritte Variante: eine Kombination Österreich-Tschechoslowakei-Jugoslawien, die elastischer und vor allem ökonomisch orientiert auf die Zuziehung anderer Staaten fürs Erste weniger Wert legte.
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