Das Jahr der Schatten: Roman (German Edition) by Hannah Richell

Autor:Hannah Richell [Richell, Hannah]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Diana Verlag
veröffentlicht: 2015-01-22T05:00:00+00:00

13

Lila

Januar

Der Weihnachtsbaum steht immer noch. Wie ein Betrunkener lehnt er im Erkerfenster und nadelt den hellbeigen Teppich voll. Die bräunlichen Zweige und der nach unten gerutschte Schmuck bieten ein Bild des Jammers, trotzdem kann sich Lila einfach nicht dazu aufraffen, ihn wegzuwerfen. Sie weiß, dass es Unglück bringt, ihn stehen zu lassen. Bei der Vorstellung, all die Kugeln, das Lametta und die Lichterketten abhängen und den Baum in den Garten schleppen zu müssen, fühlt sie sich jedoch überfordert. Als sie vor dem Spiegel über dem Kamin steht und sich schminkt, spürt sie seine Anwesenheit wie einen Vorwurf.

Morgen, denkt sie und trägt Wimperntusche auf.

Lila tritt einen Schritt zurück und mustert ihr Spiegelbild. Es ist seltsam, sich wieder geschminkt zu sehen. Sie ist noch blass von der Grippe, außerdem passt es irgendwie nicht mehr zu ihr. Es wirkt viel zu aufdringlich und künstlich. Sie mustert sich kritisch, rubbelt dann Rouge und Lippenstift mit einem Kosmetiktuch ab. So eine Kriegsbemalung ist nicht nötig. Sie greift nach ihren Pillen und schluckt zwei hinunter. Als gutes Omen sozusagen.

Ihre Mutter hatte die Idee, sich zum Mittagessen zu treffen. Sie hat etwas von einem Frauennachmittag gesagt, davon, mal wieder richtig Zeit miteinander zu verbringen, bevor sie nach Frankreich zurückkehrt. Lila weiß nur zu gut, dass das ein weiterer unbeholfener Versuch ist, nach ihrer Tochter zu sehen. Nachdem sie jedoch ein deprimierendes Weihnachten mit ihr verbracht hat, wollte sie nicht Nein sagen.

Ausnahmsweise einmal scheint der öffentliche Nahverkehr auf ihrer Seite zu sein. Der Busfahrer sieht, wie sie angerannt kommt, und wartet an der Haltestelle. »Danke«, keucht sie und zeigt ihren Fahrausweis. Der Mann zwinkert ihr zu und schließt die Türen. Lila stolpert bis ganz nach hinten und lässt sich auf einen freien Platz fallen. Ihre Lunge brennt vor Anstrengung. Sie behält die neue Handtasche auf dem Schoß, die ihre Mutter ihr zu Weihnachten geschenkt hat, und schaut aus dem Fenster aufs hektische Großstadtleben.

Sie kommen an einem türkischen Gemüseladen vorbei, an einem Halal-Metzger und einem farbenfrohen italienischen Feinkostgeschäft. Über der Eisenbahnbrücke hängt ein riesiges Werbebanner, das die vorbeikommenden Pendler auffordert: Entdecke das Paradies. Ein Taxi hupt, und lachende Kinder hüpfen über die Straße. Mehrere Männer gestikulieren vor einem Wettbüro, während ein struppiger schwarzer Hund, der an einem Laternenmast angebunden ist, ihnen ermutigend zubellt. Als der Bus das nächste Mal hält, muss Lila den Blick von einer Hochschwangeren abwenden, die die Stufen hochgewatschelt kommt, und konzentriert sich stattdessen auf zwei Typen mit identischem Bart, schwarzen Röhrenjeans und Sonnenbrillen. Sie betreten lässig den Bus und lassen sich auf die Sitze vor Lila fallen. Beide sind über ihre Handys gebeugt und tippen wie wild auf den winzigen Tastaturen herum. Irgendwo in der Ferne schrillt eine Sirene. Ein Baby weint.

Die Stadt ist eine endlose Betonwüste, aber wo sie auch hinschaut, wimmelt es nur so von bunten, selbstbewussten Menschen. Sie wirken wie Blumen, die durch den Asphalt brechen und auf der Suche nach Raum und Licht emporstreben.

Genau das hat sie an London geliebt, dieses pulsierende Leben. Während ihre Heimatstadt am Fenster vorbeisaust, kehren ihre Gedanken zur Ruhe des Sees zurück.

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