Das andere Kind by Das andere Kind

Das andere Kind by Das andere Kind

Autor:Das andere Kind [Kind, Das andere]
Format: epub


DONNERSTAG, 16. OKTOBER

Sie hatte keine Lust mehr weiterzulesen. Sie stand auf, blickte aus dem Fenster. Die Nacht war dunkel, wolkig, mondlos, ohne Sterne. Vom Hafen blitzten ein paar Lichter herüber. Das Meer war wie eine schwarze, bewegte Masse.

Sie ging in die Küche hinüber, sah auf der Uhr dort, dass es schon nach Mitternacht war. Sie öffnete eine Whiskyflasche, setzte sie an den Mund, trank ein paar tiefe Züge. Wischte sich mit dem Ärmel ihres Pullovers die Lippen ab. Fing plötzlich an zu weinen.

Was war aus Brian Somerville, dem anderen Kind, geworden?

Die Bilder schossen in ungeordneter Reihenfolge durch ihren Kopf: ihre Großmutter als siebzehnjähriges Mädchen, Chad Beckett als junger Mann, dem die Sorgen über den Kopf wuchsen, die Farm, verwahrlost und kurz vor dem Zusammenbruch stehend. Der Krieg gerade eben vorbei.

Versuche, sie zu verstehen, sagte eine Stimme in ihrem Kopf Versuche, sie nicht zu verurteilen. Versuche, ihr zu verzeihen.

Sie weinte heftiger, setzte erneut die Flasche an. Sie sah den kleinen Jungen vor sich, der ein Opfer gewesen war vom ersten Tag seines Lebens an und der es geblieben war, weil ... Fiona sich geweigert hatte, ihn zu schützen. Weil sie sich, vor die Wahl gestellt, entschlossen hatte, Chad Beckett zu schützen. Den Mann, den sie liebte.

Den zu lieben sie zumindest geglaubt hatte.

Als ob Fiona Barnes je geliebt hätte in ihrem Leben.

Ihr wurde schwindelig. Sie hatte lange nichts mehr gegessen und kippte nun hochprozentigen Alkohol in sich hinein.

warum habe ich immer, immer gefroren als Kind? warum ist meine Mutter drogensüchtig gewesen?

Sie musste herausfinden, was aus Brian Somerville geworden war. Es blieben noch ein paar Seiten zu lesen. Fionas ganzes weiteres Leben konnten sie nicht enthalten. Vermutlich einen Ausblick auf Brians Schicksal.

»Ich kann das jetzt nicht«, murmelte sie.

Sie trank den Whisky wie Wasser. Das wäre die nächste Frage: warum bin ich Alkoholikerin geworden?

Natürlich war sie nicht wirklich zur Alkoholikerin geworden. Sie trank nur etwas zu viel und etwas zu oft. Immer dann, wenn die Dinge problematisch wurden. Sie wusste, dass sie dringend damit aufhören musste. Die geöffnete Flasche in der Hand stand sie mitten in der Küche und blickte auf die vertrauten Gegenstände ringsum, die Kaffeemaschine, das Bord mit den Kaffeebechern, das sie noch aus ihrer Kindheit kannte. Der tönerne mit Blumen bemalte Aschenbecher auf dem Tisch, den sie selbst irgendwann in ihrer Schulzeit für Fiona getöpfert hatte. Immerhin, ihre Großmutter hatte ihn aufbewahrt und benutzt. Für eine Frau wie Fiona war das eine Menge.

Sie stellte die Flasche auf die Anrichte, nahm sie aber sofort wieder auf und trank ein paar weitere Schlucke. Sie würde sich jetzt betrinken. Sie würde sich zudröhnen bis zum Filmriss, dann würde sie, wenn sie das noch schaffte, ins Bett wanken und bis weit in den nächsten Tag hinein schlafen. Ihr würde speiübel sein, wenn sie schließlich aufwachte, aber der Kopfschmerz würde ihre Gedanken betäuben, sie wusste das aus Erfahrung. Ein wirklich heftiger Kater war geeignet, die Welt ringsum weitgehend auszuschalten. Der pelzig trockene Mund, der Brechreiz, das Stechen in den Schläfen marterten so, dass alles andere in den Hintergrund trat.



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