Clarissa: Ein Romanentwurf by Stefan Zweig

Clarissa: Ein Romanentwurf by Stefan Zweig

Autor:Stefan Zweig [Stefan Zweig]
Die sprache: deu
Format: epub
veröffentlicht: 2012-02-29T23:00:00+00:00


* * *

Als sie zu sich kam, lag sie auf einem Sofa. Etwas Nasses, Kaltes hatte man ihr über ihre Augen gelegt. Sie schob es weg. Bei ihr stand der Arzt, mit schweren Brillen sah er sie an. »Na, Kinderl, ist Ihnen besser?« Clarissa zuckte es die Sinne zusammen. Sie erkannte das Zimmer, auch den Arzt. »Bin ich in Ohnmacht gefallen?« fragte sie. »Ja«, antwortete der Arzt, »das hat nichts zu bedeuten. Ich habe das immer gefürchtet. Sie haben sich übernommen. Ruhen Sie sich jetzt aus. Ich komme gleich zu Ihnen zurück.« Clarissa blieb liegen. Sie wollte sich erinnern, was geschehen war. An den Vater, an Eduard, den Bruder. Aber sie {109}mußte – mehr als an den Vater – immer an den andern denken. Sie hatte das Gefühl einer Bedrückung. Abends wollte sie wieder aufstehen und ihren Dienst versehen. Der Arzt kam, um nachzusehen. Als er hörte, daß sie die Nachricht vom Tode ihres Bruders erhalten hatte, wurde er ernst und sprach ihr seinen Anteil aus. »Aha, der Bruder ist gefallen. Mein Beileid, mein aufrichtiges Beileid. Na, dann ist ja Ihre Ohnmacht zu begreifen. Ich verstehe. Sonst wenn Frauen in Ohnmacht fallen, denkt unsereiner zuerst immer an was anderes. Weil dies meistens die Hauptsache ist. Ja, die Nerven, die sind heut’ schwer zusammenzuhalten. Ich hatte erst geglaubt, es sei etwas mit dem Herzen. Aber bei Ihrem Blick … nein, Ihr Herz geht ganz ruhig. Jetzt bleiben Sie noch eine Nacht, und dann nehmen sie zwei, drei Tage Urlaub, darauf bestehe ich. Am besten ist es, wenn Sie zu Ihrem Vater fahren.«

Clarissa blieb still. Auf einmal waren ihre Hände eiskalt geworden. Etwas drückte ihr hinab vom Gehirn. Die flüchtige Bemerkung des Arztes hatte einen Gedanken in ihr erweckt. Der ließ sie nicht los. In den Wochen der rasendsten Anstrengung hatte sie nicht auf sich, auf ihren Körper geachtet; jetzt begann sie sich zu erinnern, daß etwas in ihrem körperlichen Leben unterbrochen war. Zitternd betastete sie ihren Leib, ihre Brüste. Daran hatte sie nicht gedacht. Sie wurde reglos. Vielleicht war das nur ein Zufall, der Grund konnte Überanstrengung sein. Das Zittern setzte wieder ein; sonst hatte sie sich immer halten können. Wenn es wirklich geschehen war?! Léonard hatte die zarteste Rücksicht geübt, aber jene Nacht der Verzweiflung, als sie halb im Traum, halb in Verzweiflung ihre Körper aneinanderpreßten, als wollten sie den Gram ersticken, einer an des andern Brust … Das Zittern hielt an, ja sie begann mehr zu zittern. Es war unausdenkbar, ein Kind eines Franzosen zu erwarten, das Kind eines Feindes, und dies zu bekennen; dabei konnte sie es ihm {110}nicht sagen, er konnte ihr nicht helfen, er konnte sich nicht dazu bekennen, sie konnte sich nicht dazu bekennen, vor niemandem, nicht vor dem Vater, vor keinem. Eine unausdenkbare Situation. Nein, es darf nicht sein! Diese Unsicherheit war unerträglich. Sie besuchte noch einmal den Arzt. Sie sagte nur: »Sie haben recht. Ich kann nicht mehr weiter. Ich nehme Urlaub für acht Tage. Ich fahre zu meinem Vater.«



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