Baba Jaga (German Edition) by Toby Barlow

Baba Jaga (German Edition) by Toby Barlow

Autor:Toby Barlow [Barlow, Toby]
Die sprache: deu
Format: azw3, epub, mobi
ISBN: 9783455170016
Herausgeber: Atlantik
veröffentlicht: 2014-03-10T23:00:00+00:00


IV

Noëlle saß verdattert im Schneidersitz auf dem Hotelbett und sah Elga dabei zu, wie sie ihre überdimensionale Leinwand-Reisetasche durchwühlte. Die Alte hatte über eine Stunde lang, Satzfetzen vor sich hin brabbelnd, im Zimmer herumgewirtschaftet und dabei das Mädchen kaum zur Kenntnis genommen. Jetzt wuchtete sie aus den Tiefen der Tasche einen großen, in ein altes Laken eingeschlagenen Gegenstand heraus. Es war eine kostbar aussehende Uhr, die sie auf den Tisch stellte, um dann weiter in der Reisetasche zu kramen, aus der sie schließlich einen Revolver hervorholte.

»Sieh dich aufmerksam um und wäge alle Dinge ab, wäge sie richtig, so wie ein Schlachter Fleisch wiegt«, sagte die Alte zu Noëlle, indem sie eine Augenbraue wölbte und den Revolver in der Luft schwenkte. »Vor allem dämliche Spielsachen wie die hier. Die Leute meinen, Schusswaffen wären wichtig – ah, so viel Angst und Lust wegen diesem Stahldings, richtig? Aber wie in vielen anderen Dingen irren sie sich auch hier gewaltig, Schusswaffen sind nicht wichtig; sie sind dumm. Aber« – sie hielt den Finger bedeutungsvoll in die Höhe, bückte sich dann abrupt wieder über ihre Reisetasche, wühlte und kramte, bis sie eine Schachtel fand –, »Kugeln ja, Kugeln sind wichtig.«

»Wozu hast du eine Pistole? Was schießt du denn?«, fragte Noëlle.

»Oh, ich hab schon alles Mögliche geschossen. Hauptsächlich Esssachen, Tiere, ein paar Störenfriede«, sagte Elga. »Neulich, da musste ich so ein blödes Schwein abschießen, damit es seine große Schweineklappe hielt. Aber ich war vorsichtig, ich hab nur eine Kugel gebraucht, siehst du?« Sie öffnete die Ladeklappe der Waffe und zog die Trommelachse nach vorn, und die Trommel klappte seitlich heraus. Noëlle konnte sehen, dass sie mit Patronen gefüllt war, nur eine Kammer enthielt lediglich eine leere Hülse. Elga holte diese heraus und ersetzte sie durch eine frische Patrone. »Zuerst bin ich in den Laden des Mannes spaziert und hab ihm die Kanone an den Kopf gehalten und hab abgedrückt. Dann, um sicher zu sein, dass der Idiot wirklich nicht schwatzt, hab ich ihm die Zunge rausgeschnitten.«

»Iiih, was hast du dann damit gemacht?«

»Hmmm, tja, äh … Zungen sind zart«, sagte Elga. »Machen sich prima in einem schönen Gulasch.« Sie meckerte in sich hinein, legte den Revolver auf den Nachttisch und fing dann wieder an, in der Tasche zu wühlen.

Eigentlich hätte Noëlle, wie ihr selbst klar war, verängstigt oder schockiert sein sollen, aber stattdessen war sie wie taub für sämtliche Überraschungen, die ihr neues Leben zu bieten hatte. Sie nahm alles einfach zur Kenntnis. Noch immer erschöpft von ihrer Taufe in der Hotelbadewanne, hatte sie den letzten Tag weitgehend verschlafen. Jedes Mal, wenn sie aufgewacht war, hatte die alte Frau an ihrer Seite gesessen, ihr das Haar gestreichelt und unaufhörlich seltsame Lektionen vor sich hin gebrabbelt. »Jetzt hör zu, wo andere Leute Bäume sehen, sollst du Feuer sehen, und wenn sie zu den Berggipfeln aufschauen, beobachte ihre Füße.« Und dann: »Männer sind wie Seen, breit, groß und leicht zu befahren; Frauen sind Flüsse, klein, schmal, mit tiefen, sich schlängelnden Strömungen.« Und dann: »Lesen ist wichtig, aber dann alles. Als wir Wörter lesen lernten, verlernten wir, wie sich Dreck liest.



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