Am seidenen Faden by Joy Fielding

Am seidenen Faden by Joy Fielding

Autor:Joy Fielding
Die sprache: de
Format: mobi, epub
Herausgeber: PeP eBook
veröffentlicht: 2010-10-26T22:00:00+00:00


17

Zwei Tage vor Weihnachten verschwand meine Mutter.

Ich stritt mich gerade mit Sara, als das Telefon läutete.

»Könntest du da mal rangehen?« sagte ich. Wir waren im Wohnzimmer. Ich lag auf den Knien, um die letzten Weihnachtsgeschenke unter der großen, prächtig geschmückten Tanne zu verteilen.

Sara blieb, wo sie war, mitten im Zimmer, die langen Beine leicht gespreizt, die Hände herausfordernd in die schmalen Hüften gestemmt. Sie trug schwarze Lastexleggings, ein kirschrotes, zu kurzes und zu enges Hemdchen und hochhackige Stiefeletten, die ihre bereits beachtliche Größe noch betonten. Ihr Haar war, wie Pergament, gelb geworden unter dem ständigen Einfluß der Sonne, und das nachgewachsene Stück dunkler Wurzeln umrahmte ihr ovales Gesicht wie ein breites Stirnband. Sie war eine imposante, um nicht zu sagen beängstigende Gegnerin.

»Soll doch der Anrufbeantworter drangehen«, sagte sie, ohne sich zu rühren. »Warum willst du mir kein Geld geben?«

»Weil ich keine Lust habe, dieses Jahr wieder für meine Weihnachtsgeschenke zu bezahlen«, antwortete ich, erleichtert, als das Telefon zu läuten aufhörte. »Ich finde, du bist inzwischen alt genug, um Geschenke mit deinem eigenen Geld zu kaufen.«

»Mit welchem Geld?«

»Mit dem Geld, das du hättest sparen können. Weihnachten kommt ja nicht gerade überraschend. Du hast massenhaft Zeit gehabt, dich darauf einzustellen. Michelle spart ihr Geld schon seit Monaten.« Ich wußte sofort, daß es ein Fehler gewesen war, das zu sagen.

»Na klar, vergleich mich nur mit Michelle!« Sara warf mit einer Bewegung, die zugleich bedrohlich und resignativ war, die Arme hoch.

»Ich wollte dich nicht mit Michelle vergleichen.«

»Ach was, du vergleichst uns doch ständig. Michelle, das Tugendschaf, das immer alles richtig macht. Diese blöde Ziege«, rief sie höhnisch.

»Sara! Hör auf damit! Sofort! Laß deine Schwester aus dem Spiel.«

»Du bist doch diejenige, die sie reingezogen hat.«

»Ja, und es tut mir leid.«

»Na schön, dann kriegt eben dieses Jahr niemand etwas von mir zu Weihnachten, weil ich kein Geld hab«, sagte sie wieder.

Ich zuckte die Schultern. »Schade.«

»Ja, du bist todtraurig darüber. Das hört man dir an.«

Das Telefon begann wieder zu läuten.

»Du willst unbedingt, daß ich an Weihnachten richtig blöd dasteh, stimmt’s?« fuhr Sara, es mit einer anderen Taktik versuchend, fort. »Du willst mich dafür bestrafen, daß ich nicht so ordentlich bin wie Michelle. Nur weil ich anders bin als ihr.«

Herr, hilf mir, dachte ich, während ich aufsprang und zum Telefon rannte. »Hallo!«

»Mrs. Sinclair?«

»Ja.«

»Gott sei Dank. Ich habe es vor ein paar Minuten schon einmal versucht und nur Ihren Anrufbeantworter erreicht.«

»Mrs. Winchell?« fragte ich, das Gesicht mit der gehetzten Stimme am anderen Ende der Leitung verbindend. »Was ist passiert? Ist etwas mit meiner Mutter?«

Es folgte ein unheilschwangeres Schweigen. »Sie ist also nicht bei Ihnen?«

»Wenn ich Michelle wäre, würdest du mir das Geld bestimmt geben!« schrie Sara wütend, während sie drohend vor mir hin und her rannte.

»Was meinen Sie?« fragte ich Mrs. Winchell.

»Ich meine, wenn ich Michelle wäre, gäbe es überhaupt kein Problem«, schimpfte Sara weiter.

»Wir können Ihre Mutter nicht finden«, sagte Mrs. Winchell.

»Was soll das heißen, Sie können meine Mutter nicht finden?« fragte ich scharf. »Wirst du wohl endlich aufhören damit!« schrie ich meine Tochter an, die daraufhin abrupt stehenblieb.



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