Alles ist relativ und anything goes · Eine Reise durch das unglaublich seltsame und ziemlich wahnsinnige 20. Jahrhundert by Higgs John

Alles ist relativ und anything goes · Eine Reise durch das unglaublich seltsame und ziemlich wahnsinnige 20. Jahrhundert by Higgs John

Autor:Higgs, John [Higgs, John]
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Sachbuch
ISBN: 9783458176633
Herausgeber: Insel Verlag
veröffentlicht: 2016-03-27T00:00:00+00:00


10 SEX

Eine Performance in SoHo, New York, 1970.

Neunzehnhundertdreiundsechzig

(was recht spät war für mich)

In turbulenten Zeiten der Geschichte kann es geschehen, dass jemand erst ein Konservativer, dann ein gefährlicher Radikaler und schließlich ein peinlicher Reaktionär ist, ohne dass er sein Denken verändert hätte. Das passierte der englischen Paläobotanikerin Dr. Marie Stopes in den frühen Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts.

Maries Mutter, die Shakespeare-Expertin Charlotte Carmichael Stopes, war die erste Frau, die in Schottland einen Universitätsabschluss erlangte, und das zu einer Zeit, als Frauen nicht zu Lehrveranstaltungen zugelassen wurden und keine akademischen Grade erwerben durften. Charlotte schrieb zahlreiche wissenschaftliche Werke über Shakespeare, doch ihr erfolgreichstes Buch war British Freewomen: Their Historical Privilege (1894), das die Suffragettenbewegung des 20. Jahrhunderts inspirierte. Charlotte war eine entschiedene Feministin, die für das Frauenwahlrecht kämpfte.

Anders als ihre Mutter schien Marie Stopes zunächst nicht zu einem Universitätsstudium zu neigen. Ihre formale Ausbildung begann erst, als sie mit zwölf Jahren auf ein von Suffragetten geführtes Internat in Edinburgh geschickt wurde. Doch trotz ihres späten Starts bewarb sie sich am Botanischen Institut der Universität in München und wurde dort auch zugelassen. Anfangs war sie die einzige Frau unter fünftausend Männern. Sie übertraf sogar noch den akademischen Erfolg ihrer Mutter und promovierte im Alter von vierundzwanzig Jahren. Dr. Stopes wurde eine anerkannte Expertin auf dem Gebiet fossiler Pflanzen und schien auf dem Weg zu einem Leben, das der Erforschung der Kohle gewidmet war.

Wie ihre Mutter glaubte Marie unverbrüchlich an Frauenbildung und politische Gleichberechtigung. Aber während Charlotte eher dem radikalen Aktivismus einer Emmeline Pankhurst folgte, bevorzugte Marie die konservativen Suffragetten. Pankhurst war tief enttäuscht von den mangelnden Erfolgen der Frauenwahlrechtsbewegung im 19. Jahrhundert und setzte sich deshalb für den auf Konfrontation ausgerichteten Ansatz ein, der als Direkte Aktion bezeichnet wird. Ihre Anhängerinnen schrien Politiker nieder, ketteten sich an Eisengitter und begingen Brandstiftung. Sie warfen Steine durch Fenster des Buckingham Palace, mit daran befestigten Erklärungen, auf denen es hieß: »Weil verfassungsmäßige Verfahren ignoriert werden, treibt man uns dazu, Fenster einzuwerfen.« Der Tod Emily Davisons, die sich beim Epsom Derby einem Pferd in den Weg stellte, das König Georg V. gehörte, wurde zum bestimmenden Bild der von Pankhurst angeführten Protestbewegung.

In Marie Stopes’ Augen war das alles ein wenig zu radikal. Aber sie und ihre Mutter waren gleichermaßen der Ansicht, dass die Frauen das Wahlrecht erhalten mussten. Ihnen war klar, dass dies zur Gleichberechtigung auf zahlreichen Gebieten führen würde, vom Scheidungs- bis zum Steuerrecht. Ihre Meinungsverschiedenheiten beruhten auf Unterschieden des Temperaments. Marie hielt Protestaktionen nicht für ladylike. Sie ließ sich zunächst nicht von der Argumentation ihrer Mutter überzeugen, dass eine Dame, die in ihrem Haus einen Dieb erwischte, ihm sehr wohl mit einem Besen auf den Kopf schlagen durfte, und dasselbe gelte auch für Frauen, die man ihrer politischen Rechte beraubt hatte.

Es gab allerdings ein Gebiet, auf dem Marie radikaler war als Charlotte, und das war die Sexualität. Charlotte war das Produkt einer Gesellschaft, in der Frauen gezwungen waren, sich ihrem Mann hinsichtlich der Nachkommenschaft zu fügen, selbst aber keinesfalls sexuelle Gefühle zeigen durften.



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