Aller Anfang by Shalev Meir

Aller Anfang by Shalev Meir

Autor:Shalev, Meir [Shalev, Meir]
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Neue Literatur
ISBN: 978-3-257-60380-4
Herausgeber: Diogenes
veröffentlicht: 2014-12-21T05:00:00+00:00


[196] Wer eine Mauer einreißt, den kann die Schlange beißen

Der Prophet Jeremia kannte sich bestens aus mit der Natur des Landes Israel und seinen Tieren, und die Truppen des babylonischen Feindes verglich er mit »giftigen Schlangen, gegen die es keine Beschwörung gibt«. Das verweist sowohl auf die Gefährlichkeit dieser Schlangen – dem biblischen Namen nach zu urteilen, handelt es sich vermutlich um Palästinavipern – als auch auf die Unfähigkeit der Menschen damals, Schlangenbisse anders als mit magischen Mitteln zu kurieren, zu denen Beschwörungen gehörten. Auch der Prediger Kohelet erwähnte Schlangen, gegen die der Schlangenbeschwörer nichts auszurichten vermag, und es ist gut möglich, dass die Schlangenbeschwörung – Lachasch, ein Wort, das im heutigen Hebräisch für alle möglichen Beschwörungen und Zaubersprüche steht – ursprünglich eine lautmalerische Nachahmung des Zischelns der Schlange, Lechischat ha-Nachasch, war, ein Mittel gegen ihr Gift.

Die berühmte Kupferschlange, die Mose goss und an einen Mast hängte, war ebenfalls ein Heilmittel gegen die Bisse echter Schlangen: »Mose machte also eine Schlange aus Kupfer und hängte sie an einer Fahnenstange auf. Wenn nun jemand von einer Schlange gebissen wurde und zu der Kupferschlange aufblickte, blieb er am Leben.« Auch Äskulap, der griechische Gott der Heilkunst, trat stets mit einer Schlange auf, und so gelangte sie in die Abzeichen heutiger medizinischer Einrichtungen und Sanitätskorps in aller Welt.

Das Grauen vor der Schlange hat auch einige hebräische Ausdrücke geprägt. Ein besonders dummer Spruch lautet: [197] »Selbst der besten Schlange zerschmettere den Kopf.« Er war ursprünglich auf die ägyptischen Sklaventreiber zu Moses Zeiten gemünzt, und manche ziehen noch heute politische Lehren daraus. Eine besonders interessante Wendung ist hingegen: »Wer eine Mauer einreißt, den kann die Schlange beißen.« Sie stammt aus dem Buch Kohelet, dem Prediger Salomo, wo es in Kapitel 10 heißt: »Wer eine Grube gräbt, kann hineinfallen, wer eine Mauer einreißt, den kann die Schlange beißen, wer Steine bricht, kann sich dabei verletzen, wer Holz spaltet, bringt sich dadurch in Gefahr.«

Die übliche Erklärung besagt, dass die Sünder ihre Strafe abbekommen: Wer anderen eine Grube gräbt, fällt selbst hinein. Wer eine Mauer einreißt, das heißt, das Gesetz übertritt, wird zur Strafe von der Schlange gebissen. Wer Steine bricht, also zerstört und zerschmettert, wird verletzt und leidet Schmerzen, und wer Holz spaltet und Bäume fällt, gefährdet sein Leben.

Meiner Ansicht nach ist diese Auslegung unrichtig, und der Prediger meinte genau das Gegenteil. Doch zunächst möchte ich die Realität zu schildern versuchen, die der metaphorischen Verwendung von Mauer – oder wörtlich übersetzt: »Zaun« – und Schlange zugrunde lag.

Der biblische Zaun war eine niedrige Einfriedung aus Feldsteinen, die den Weinberg oder Gemüsegarten begrenzte. Er wird auch in der Geschichte des Sehers Bileam im Buch Numeri, Kapitel 22 erwähnt. Bileam kam damals auf seiner Eselin angeritten, um das israelitische Feldlager zu verfluchen. »Darauf stellte sich der Engel des Herrn auf den engen Weg zwischen den Weinbergen, der zu beiden Seiten Mauern hatte. Als die Eselin den Engel des Herrn sah, drückte [198] sie sich an der Mauer entlang und drückte dabei das Bein Bileams gegen die Mauer.«

Die Einfriedung wurde errichtet, wenn man ein Stück Land von Steinen befreite, um es zu bepflanzen.



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