Wie wirklich ist die Wirklichkeit? by Paul Watzlawick

Wie wirklich ist die Wirklichkeit? by Paul Watzlawick

Autor:Paul Watzlawick [Watzlawick, Paul]
Die sprache: deu
Format: epub
veröffentlicht: 2014-05-21T16:00:00+00:00


Unternehmen Neptun

Strenggenommen war dieses Unternehmen kein Desinformationsmanöver im eben beschriebenen Sinne, sondern vielmehr das, was in der Terminologie der östlichen Geheimdienste eine Beeinflussungsoperation genannt wird.33 Es wurde im Frühjahr 1964 in der Tschechoslowakei durchgeführt und hatte, in den Worten eines seiner Urheber, Ladislav Bittman [20], einen dreifachen Zweck: Erstens sollte dadurch die öffentliche Meinung Europas gegen das bevorstehende Ablaufen der Verjährungsfrist für Kriegsverbrechen in Deutschland wachgerüttelt werden; zweitens sollte es als Grundlage für die Veröffentlichung weiterer Naziverbrechen dienen, und drittens sollte es die Arbeit der westdeutschen Geheimdienste durch die Veröffentlichung von Namen früherer Kollaborateure erschweren, von denen angenommen werden konnte, daß sie in die Dienste der Bundesrepublik übernommen worden waren.

Bekanntlich waren seit Kriegsende viele größere und kleinere Funde von Dokumenten, gestohlenen Kunstwerken, Geräten, Waffen usw. gemacht worden, die von deutschen Dienststellen versteckt worden waren. Ob es zutrifft, daß in einer Geheimkonferenz in Straßburg am 10. August 1943 wirklich weitreichende Pläne für die Geheimaufbewahrung der Archive des Dritten Reichs gemacht worden waren, ist nicht sicher; fest steht aber, daß einige solcher Verstecke tatsächlich hergestellt und raffiniert getarnt wurden, offensichtlich um die Dokumente in bessere Zeiten hinüberzuretten. Auch machten in den Nachkriegsjahren viele Gerüchte über ehemalige deutsche Soldaten die Runde, die versuchten, an solche Verstecke heranzukommen. So wurden zum Beispiel aus dem Toplitzsee bei Bad Aussee von den österreichischen Sicherheitsbehörden einige anscheinend im Entwicklungsstadium stehende Geräte der ehemaligen Kriegsmarine sowie mehrere Kisten geborgen, die in Eigenregie erzeugte Pfundnoten (von der zur Bezahlung Ciceros verwendeten Art) enthielten, nachdem dort ein deutscher »Tourist« beim Tauchen ertrunken war. Diese Entdeckung war jedenfalls Wasser auf die Mühlen der hartnäckigen Gerüchte, wonach im Grenzgebiet zwischen Oberösterreich, Bayern und Südböhmen wichtige Dokumente und märchenhafte Schätze auf dem Grunde von Gewässern, in Schächten und in den unterirdischen Gewölben alter Burgen versteckt waren. Wie im Falle des Gerüchts von Orleans trug auch hier der Lokalkolorit zur Erhöhung des Geheimnisses und der Faszination bei.

Es war daher nicht erstaunlich, daß die Weltöffentlichkeit elektrisiert war, als die tschechoslowakischen Behörden im Mai 1964 die Bergung von vier großen, asphaltüberzogenen Kisten aus dem Schwarzsee bei Schüttenhofen in Südböhmen bekanntgaben. Ladislav Bittman, der bereits erwähnte Organisator dieses Unternehmens [20], beschreibt, wie diese Kisten vom tschechoslowakischen Geheimdienst im See versenkt und einige Wochen später von einem Fernsehteam entdeckt wurden, das »zufällig« im See Unterwasseraufnahmen durchführte. Unter besonders auffälligen

Sicherheitsmaßnahmen, deren Zweck die Erweckung größtmöglichen Aufsehens war, wurden die Kisten nach Prag gebracht und der Inhalt sowie der Film ihrer Entdeckung schließlich in einer Pressekonferenz der Öffentlichkeit vorgeführt. Unternehmen Neptun wurde als großer Erfolg betrachtet, und hinter den Kulissen gratulierte man sich herzlich.

Laut Bittman war das Ganze aber eine recht mittelmäßige Affäre und stand von Anfang an unter einem üblen Stern. Ungleich der minuziösen Sorgfalt, mit der die Erfinder von Major Martin zu Werke gegangen waren, müssen ihre tschechoslowakischen Kollegen recht leichtsinnig gewesen sein. Es kam nämlich das Gerücht auf, daß unbekannte Personen (die aber irgendwie als Beamte des Innenministeriums erkannt wurden) beim Hineinwerfen von Kisten in den See beobachtet worden waren. Nachforschungen ergaben, daß tatsächlich eine Indiskretion stattgefunden hatte, und Unternehmen Neptun entging nur um Haaresbreite einer Blamage.



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