Warum Marx recht hat by Terry Eagleton

Warum Marx recht hat by Terry Eagleton

Autor:Terry Eagleton [Eagleton, Terry]
Die sprache: deu
Format: mobi
Herausgeber: Ullstein eBooks
veröffentlicht: 2012-02-14T23:00:00+00:00


Sechs

Marx war Materialist. Er glaubte, dass es nichts als Materie gebe. Er hatte kein Interesse an den geistigen Aspekten der Menschheit und erblickte im menschlichen Bewusstsein lediglich einen Reflex der materiellen Welt. Er war ein erbitterter Feind der Religion und hielt die Moral einfach für eine Frage des Zwecks, der die Mittel heiligt. Der Marxismus nimmt uns alles, was uns besonders auszeichnet, und macht aus uns ohnmächtige Materieklumpen, die von ihrer Umwelt gegängelt werden. Von diesem trost- und seelenlosen Menschenbild führt ein direkter Weg zu den Gräueltaten Stalins und anderer Marx-Jünger.

Ob die Welt aus Materie, Geist oder Kräuterkäse besteht, ist keine Frage, die Marx den Schlaf geraubt haben dürfte. Er verachtete solche vermessenen metaphysischen Abstraktionen und tat sie unwirsch als müßige Spekulationen ab. Als einer der bedeutendsten Denker der Moderne war Marx höchst allergisch gegen Phantastereien. Wer ihn für einen blutleeren Theoretiker hält, vergisst, dass er unter anderem ein romantischer Philosoph war, misstrauisch gegen alles Abstrakte und leidenschaftlich dem Konkreten und Besonderen zugetan. Das Abstrakte hielt er für simpel und nichtssagend, das Konkrete hingegen für vielfältig und komplex. Also egal, was der Materialismus für ihn bedeutete, es ging ihm dabei gewiss nicht um die Frage, woraus die Welt besteht.

Diese beschäftigte weit eher die materialistischen Aufklärer des 18. Jahrhunderts, von denen einige den Menschen als eine bloß mechanische Funktion der materiellen Welt begriffen. Marx selbst hielt diese Theorien jedoch für durch und durch ideologisch. Zum einen wiesen sie dem Menschen eine bloß passive Rolle zu. Der Verstand galt als unbeschriebenes Blatt, das von der materiellen Außenwelt Sinneseindrücke empfange. Aus diesen Eindrücken bildeten sich die Ideen. Wenn sich die Eindrücke auf irgendeine Weise so manipulieren ließen, dass sie Gedanken der »richtigen« Art hervorbrächten, könnten sich die Menschen stetig in Richtung eines Zustands gesellschaftlicher Vollkommenheit fortentwickeln. Das waren beileibe keine politisch unschuldigen Lehren, sondern die Ideen einer Elite von bürgerlichen Philosophen, die nicht nur für Gerechtigkeit, Freiheit und Menschenrechte eintraten, sondern auch für Individualismus und Privateigentum. Sie hegten die paternalistische Hoffnung, durch diese Beeinflussung des Denkens das Verhalten der einfachen Leute verändern zu können. Es ist schwer vorstellbar, dass sich Marx eine solche Art von Materialismus zu eigen gemacht hätte.

Wenn das auch nicht die einzige Form des Materialismus vor Marx war, so begriff er ihn doch generell als eine Denkweise, die eng mit den Interessen der Mittelklassen verbunden war. Seine eigene Spielart des Materialismus, wie er sie in den Thesen über Feuerbach und anderenorts entwickelte, war völlig anders, dessen war sich Marx sehr wohl bewusst. Ihm war klar, dass er mit einem Materialismus alten Stils brach und etwas ganz Neues schuf. Materialismus hieß für Marx, von einem realistischen Menschenbild auszugehen, statt einem verschwommenen Ideal anzuhängen. Und realistisch hieß für ihn in erster Linie, dass wir eine Spezies praktischer, materieller, körperlicher Wesen sind. Alles, was wir sonst sind oder sein könnten, müsse von diesem grundlegenden Faktum abgeleitet werden.

Mutig verwarf Marx das passive Subjekt des bürgerlichen Materialismus und ersetzte es durch ein aktives: Alle Philosophie müsse von der Prämisse ausgehen, dass Menschen, was immer sie



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