Versuch, die Jugend zu verderben by Badiou Alain
Autor:Badiou, Alain [Badiou, Alain]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Suhrkamp Verlag
veröffentlicht: 2016-10-04T23:00:00+00:00
3.
Ãber das gegenwärtige Werden der Töchter
Ich zögere, mich der Frage nach dem Werden der Töchter zuzuwenden.
Erstens, weil es für einen alternden Mann grundsätzlich gefährlich ist, von jungen Frauen, von Töchtern oder Mädchen zu sprechen. Möge meine eigene Tochter Claude Ariane mir auf diesem gefährlichen Weg ein wenig Beistand leisten. Zweitens, weil gar nicht sicher ist, ob es in unserer gegenwärtigen Welt überhaupt eine Frage der »Tochter« oder, besser, des »Mädchens« gibt. In der alten Welt, der Welt der Tradition, war völlig klar, welche Frage sich in Bezug auf die Töchter stellte. Die Frage war, ob und wie eine Tochter zur Ehefrau werden, auf welche Weise sie ihre verführerische Jungfräulichkeit ablegen und die Mühen der Mutterschaft auf sich nehmen würde. Zwischen dem Status der Tochter und jenem der Mutter lag die verfemte, negative Figur des Mutter-Mädchens, jener Frau, die kein Mädchen mehr war, weil sie bereits Mutter war, aber keine richtige Mutter sein konnte, weil sie noch unverheiratet und also ein Mädchen war.
Die Figur des Mutter-Mädchens war für traditionelle Gesellschaften â und für die Romane des 19. Jahrhunderts â äuÃerst bedeutsam. Sie beweist, dass die Frau zu allen binären Begriffen und Zuordnungen ein Zwischenstadium konstruieren kann, einen Platz auÃerhalb der zugewiesenen Plätze, etwa zwischen der Mutter- und der Tochterrolle. Sie kann das ausfüllen, was Georges Bataille den »verfemten Teil« genannt hat. In traditionellen Gesellschaften fiel dieser Teil immer der Frau zu. Das Mutter-Mädchen ist ein Beispiel, die Figur des »alten Mädchens« oder der »alten Jungfer« ein anderes. Ein Mädchen hat per definitionem jung zu sein. Ein altes Mädchen nimmt also einen Platz ein, den es gar nicht gibt. Das Motiv des deplatzierten Platzes ist ein klassisches strukturales Thema. Von diesem Motiv will ich mich im Folgenden leiten lassen, trotz aller inhärenten Gefahren.
In unserer heutigen Welt der Kommodifizierung und Lohnarbeit, der allgegenwärtigen Kommunikation und Zirkulation und des vollkommen entfesselten Kapitalismus lässt sich die Frage des Mädchens oder der Tochter nicht mehr auf die Ehe reduzieren. Natürlich ist die alte Welt noch nicht vollkommen tot. Religion und Familie, Heirat und Mutterschaft, Schamgefühl und sogar Jungfräulichkeit, all diese Dinge haben an vielen Orten weiterhin eine feste Bedeutung. Doch Philosophen interessieren sich weniger für das Seiende als für das Künftige. Und das Künftige der Töchter ist keineswegs mehr auf die Heirat beschränkt. Man kann die Mädchen der Gegenwart, zumindest im Westen, nicht länger darauf festlegen, dass sie weibliche Wesen sind, die ihr Frau-und-Mutter-Werden durch die Vermittlung der Ehe und also eines Mannes erfahren. Die gesamte feministische Revolte seit dem späten 19. Jahrhundert verfolgt im Grunde nur das eine Ziel: Frauen können und sollen unabhängig von den Männern existieren. Sie können und sollen selbstbestimmte Wesen sein und nicht solche, die bloà das Ergebnis einer männlichen Vermittlung sind. Diese Revolte hat, nicht ohne zwiespältige Folgen, auf die ich noch zu sprechen komme, wichtige Veränderungen herbeigeführt. Besonders deutlich hat sie sich auf den Status der Töchter ausgewirkt und damit sogar die Weise verändert, wie wir definieren, was überhaupt ein Mädchen ist.
In der Welt der Tradition wird die Frage
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