Utopie und Dystopie by Martin Vejvar Nicole Streitler-Kastberger

Utopie und Dystopie by Martin Vejvar Nicole Streitler-Kastberger

Autor:Martin Vejvar, Nicole Streitler-Kastberger
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: De Gruyter
veröffentlicht: 2023-07-14T07:53:06.415000+00:00


Ich hatte großes Mitleid mit ihm, aber gleichzeitig verabscheute ich ihn mehr als je zuvor. […] Ich will mich nicht vor mir selber fürchten müssen. […] Vielleicht könnte ich mich an ihn gewöhnen, obwohl er wie ein wahnsinniger Mörder aussieht. Auch wahnsinnige Mörder brauchen einen anderen Menschen […]. (DM, 210)

Die tatsächliche Qualität des ‚Tauschhandels‘ wird in der Buchfassung verschleiert, wenn die Ich-Erzählerin meint: „Es ist ein sonderbares Gefühl, wieder gebraucht zu werden“ (DM, 142), oder vage andeutet, das „Geschäft“ sei nicht einseitig, als sie eine angebotene finanzielle Entlohnung („wie ein Nachhilfelehrer“) ablehnt (DM, 169). Immerhin schläft sie gut (vgl. DM, 171) und verdankt X das Empfinden, sich bei den eigenen Bildern „daheim“ zu fühlen (DM, 175). In merkwürdiger Umkehr rückt Hubert gerade durch X näher (vgl. DM, 175).52 Ob solche ‚Benefits‘ aufzuwiegen vermögen, was der Protagonistin abverlangt wird, nämlich eine abgenötigte Zeugenschaft von zwar ungehörten, aber in jedem Fall erschreckenden, ja ungeheuerlichen Geständnissen, ist zu bezweifeln. Interessant zu beobachten ist, dass vereinzelt Züge von X auf dem Weg vom Manuskript zum Buch auf Hubert übertragen werden; so heißt es etwa in der zweiten handschriftlichen Fassung, X sehe „unangenehm lebendig aus“53, was im Buch etwas abgeschwächt von Hubert behauptet wird (vgl. DM, 94); die Berührung, die die Ich-Erzählerin weinen lässt,54 übernimmt im Buch Hubert bei seinem ersten Besuch (vgl. DM, 72).

In der Verbindung mit X kommt es zu höchst unterschiedlichen Wendungen: In der Buchfassung beschließt die Protagonistin zunächst, ihre Besuche bei X einzustellen (vgl. DM, 209); als sie sieht, wie der Jäger, bei dem sie untergebracht ist, junge Katzen tötet, ändert sie ihre Meinung: „Es war mir gleichgültig, wohin X mich bringen würde, nur weg von hier.“ (DM, 211) Dazu kommt es schließlich nicht, denn was immer X in den Augen der Ich-Erzählerin lesen kann, als sie ihn in seinem Haus aufsucht, versetzt ihn in derartige Erregung, dass er ein Glas in seinen Händen zerbricht und sich dabei verletzt. Der Anblick des tropfenden Blutes löst spontan die Taubheit der Frau; sie flüchtet vor X und verlässt Pruschen am nächsten Tag. Der letzte im Tagebuch vermerkte Entschluss gilt der Rückkehr zum Sohn und dem Vergessen.55

Im Manuskript kommt es am 19. April zu einer letzten Begegnung: handschriftlich bittet X die Protagonistin, ihn beim Weggehen zu begleiten und versichert: „Ich werde dich nie im Stich lassen, das mußt du mir glauben.“56 Die Ich-Erzählerin vermerkt, beinahe ja gesagt zu haben;57 verräterisch nimmt sich die den Tagebucheintrag beendende Anmerkung aus: „Ich wundere mich, daß ich Hubert nicht hasse.“58 Auch in diesem Setting verhindert die unerwartete Heilung der Taubheit den Bruch mit der Familie. Sie verläuft allerdings anders als im Buch: als die Ich-Erzählerin den Jäger dabei beobachtet, wie er einen Wurf junger Katzen tötet, beginnt sie zu schreien und hört mit einem Mal den eigenen Schrei. Von X nimmt sie daraufhin „Abschied mit dem Mißtrauen eines Menschen, der etwas zu verlieren hat“.59 Sie schiebt im Morgengrauen einen Zettel unter der Tür für ihn durch und reist mit dem Frühzug ab, mit dem Vorsatz, X und die Katzen zu vergessen.



Download



Haftungsausschluss:
Diese Site speichert keine Dateien auf ihrem Server. Wir indizieren und verlinken nur                                                  Inhalte von anderen Websites zur Verfügung gestellt. Wenden Sie sich an die Inhaltsanbieter, um etwaige urheberrechtlich geschützte Inhalte zu entfernen, und senden Sie uns eine E-Mail. Wir werden die entsprechenden Links oder Inhalte umgehend entfernen.