Selbst denken: Eine Anleitung zum Widerstand (German Edition) by Harald Welzer
Autor:Harald Welzer [Welzer, Harald]
Die sprache: deu
Format: mobi
ISBN: 9783104022994
Herausgeber: Fischer E-Books
veröffentlicht: 2013-02-28T23:00:00+00:00
Hypothetisches Leben
Welche der beiden Geschichten gefällt Ihnen besser? Wie Ihre Einschätzung ausfällt, hängt ausschlieÃlich von Ihrer moralischen Phantasie ab; beide Geschichten sind gleich wahrscheinlich. Was davon künftige Wirklichkeit wird, wird dadurch bestimmt, was man aus den heute gegebenen Möglichkeiten macht. Robert Musil hat in seinem Roman »Der Mann ohne Eigenschaften« die vielzitierte Ãberlegung angestellt, dass es nicht nur einen »Wirklichkeitssinn«, sondern ebenso einen »Möglichkeitssinn« gibt â eine Fähigkeit, »alles, was ebensogut sein könnte, zu denken und das, was ist, nicht wichtiger zu nehmen als das, was nicht ist«.[112]
Das ist ein faszinierender Gedanke, weil er folgenreich ist: Sobald eine Möglichkeit gedacht wird, tritt ja eine weitere Variante neben die gerade vorhandene Wirklichkeit. Damit nun aber diese Möglichkeit eine Chance bekommt, zur Wirklichkeit zu werden, muss es mehr als nur den bloÃen Gedanken geben. Es bedarf der Aktivität eines Menschen mit Möglichkeitssinn, denn, so schreibt Musil, es werden »in der Summe oder im Durchschnitt immer die gleichen Möglichkeiten bleiben, die sich wiederholen, so lange bis ein Mensch kommt, dem eine wirkliche Sache nicht mehr bedeutet als eine gedachte. Er ist es, der den neuen Möglichkeiten erst ihren Sinn und ihre Bestimmung gibt, und er erweckt sie.«[113]
Mit anderen Worten: Auch wenn es auf den ersten Blick genau umgekehrt aussieht, erweist sich der Mensch mit dem Möglichkeitssinn als viel praktischer als der mit dem Wirklichkeitssinn: Dessen Handlungsmöglichkeiten sind beschränkt, weil sein Denken durch die Parameter des Wirklichen begrenzt ist, während die mit einem Möglichkeitssinn ausgestattete Person einen unbegrenzten Raum alternativer Denk- und Handlungsweisen vor sich hat. Ulrich, der Protagonist von Musils Roman, ist mit einem Möglichkeitssinn ausgestattet und beschlieÃt, »essayistisch« zu leben. Essayistisch zu leben, das heiÃt, man entwirft sich in eine mögliche Zukunft hinein und geht dabei von Annahmen aus, die nicht schon vollständig auf ihre Richtigkeit hin überprüft sind. Man beginnt etwas, ohne genau zu wissen, worauf das am Ende hinauslaufen wird. »Ungefähr wie ein Essay in der Folge seiner Abschnitte ein Ding von vielen Seiten nimmt, ohne es ganz zu erfassen, â denn ein ganz erfasstes Ding verliert mit einem Male seinen Umfang und schmilzt zu einem Begriff ein â glaubte er, Welt und eigenes Leben am richtigsten ansehen und behandeln zu können. Der Wert einer Handlung oder Eigenschaft [â¦] [erschien] ihm abhängig von den Umständen, die sie umgaben, von den Zielen, denen sie dienten, mit einem Wort, von dem bald so, bald anders beschaffenen Ganzen, dem sie angehörten.«[114]
Essayistisch zu leben erfordert eine »paradoxe Mischung aus Genauigkeit und Unbestimmtheit«[115] â man könnte auch sagen: Es erfordert Selbstdenken, eine exakte Wirklichkeitstüchtigkeit verbunden mit der Neugier darauf, was wohl aus dem werden mag, was man denkend und handelnd beginnt. So wie soziale Handlungen niemals vollständig determiniert sind, weil ihr Ergebnis von Interdependenzen und Interaktionen abhängt, die sich nicht vorab bestimmen lassen, so kann man versuchen, vor dem Hintergrund einer Analyse, einer Idee, einer Vorstellung, einer Schlussfolgerung der jeweiligen Konstellation eine Art Schubs in die Richtung zu geben, die man für vielversprechend hält. Und dann schauen, was herauskommt.
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