Reykjavík by Jakobsdóttir Katrín; Jónasson Ragnar

Reykjavík by Jakobsdóttir Katrín; Jónasson Ragnar

Autor:Jakobsdóttir, Katrín; Jónasson, Ragnar [Jakobsdóttir, Katrín; Jónasson, Ragnar]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: btb Verlag
veröffentlicht: 2023-11-02T00:00:00+00:00


1986

20. August

Sunna war schon ein paarmal bei ihrem Bruder in der Zeitungsredaktion gewesen, doch sie hatte sich dort nie besonders wohlgefühlt. Es gab so einiges, was ihr gegen den Strich ging – der Bohemien-Lebensstil mit viel Rauchen und Alkohol, die lässige Einstellung, die Unpünktlichkeit … und mehr als alles andere die Tatsache, dass es eine reine Männerwelt war, mit dem dazugehörigen Imponiergehabe. Kein Wunder, dass Margrét dort wieder aufgehört hatte.

Aber sie hatten ihr beim Vikublaðið stets einen freundlichen Empfang bereitet – vielleicht, weil ihr Bruder so beliebt war und ihm offensichtlich eine glänzende Zukunft als Reporter prophezeit wurde. Als sie dieses Mal den Kopf durch die Tür im ersten Stock steckte, brach das Geklapper der Schreibmaschinen jäh ab, und es wurde totenstill. Drei Journalisten waren anwesend: Baldur, Steingrímur und der Chefredakteur selbst, Dagbjartur.

»Sunna.« Baldur stand als Erster auf. Er hatte oft eng mit Valur zusammengearbeitet und ihm so manche Tricks und Kniffe beigebracht, und doch war Sunna ihm gegenüber immer ein wenig misstrauisch gewesen. »Mein herzliches Beileid«, sagte er jetzt. »Wir sind alle völlig geschockt. Eine furchtbare Tragödie.« Er ging auf sie zu und umarmte sie.

»Danke«, erwiderte sie verlegen.

Steingrímur und Dagbjartur folgten Baldurs Beispiel. Beide umarmten Sunna und ergingen sich in Beileidsbekundungen. Ihr war das alles extrem unangenehm.

Zwei Tage waren seit Valurs Tod vergangen. Die Morgennachrichten hatten nur knapp gemeldet, dass er bei einem Unfall ums Leben gekommen sei. Bislang hatte Sunna noch keine öffentlichen Spekulationen mitbekommen, die andeuteten, dass an den Umständen irgendetwas verdächtig gewesen sein könnte. Aber sie selbst war fest davon überzeugt, dass Valur ermordet worden war, und sie hatte den größten Teil der letzten vierundzwanzig Stunden damit verbracht, über seinem Notizbuch zu brüten, auf der Suche nach irgendeinem Hinweis, der erklären konnte, warum er hatte sterben müssen. Bislang ohne Erfolg.

»Ich bin nur gekommen, um seine Sachen mitzunehmen«, sagte sie.

»Ja, natürlich«, antwortete Baldur. »Kann ich dir irgendwie behilflich sein?«

Sie schüttelte den Kopf und ging direkt auf den Schreibtisch ihres Bruders zu.

Er sah wie üblich aus wie Kraut und Rüben. Bei all seiner Klugheit war Valur leider absolut unfähig gewesen, Ordnung zu halten. Sie öffnete ihren Uni-Rucksack und begann Papiere, Schmierzettel und Notizblöcke hineinzustopfen. Das meiste hatte mit seiner Arbeit zu tun, aber es waren auch Einkaufszettel und Quittungen darunter sowie einige alte Notizbücher, die Valur bereits vollgeschrieben hatte. Er hatte zumeist nur eines benutzt und es bis zur letzten Seite in seiner kaum leserlichen Handschrift vollgekritzelt, ehe er zum nächsten übergegangen war. Sie beeilte sich, um ihren Besuch möglichst kurz zu halten, denn sie durfte in der Anwesenheit von anderen Menschen nicht zu viel an Valur denken. Es wäre ihr zu peinlich gewesen, vor seinen Kollegen in Tränen auszubrechen. Die Konzentration auf Valurs Notizbuch hatte ihr die Kraft gegeben, die letzten ein, zwei Tage durchzustehen, aber sie hatte es immer wieder weglegen müssen, weil sie von einem Weinkrampf geschüttelt wurde.

Jetzt entdeckte sie seinen Presseausweis in der Ecke des Schreibtischs und steckte ihn mit einem betrübten Lächeln in ihre Tasche, als Andenken an ihren liebsten Menschen.

Und da war seine Tasse, die er von zu Hause mitgenommen hatte, als er bei der Zeitung angefangen hatte.



Download



Haftungsausschluss:
Diese Site speichert keine Dateien auf ihrem Server. Wir indizieren und verlinken nur                                                  Inhalte von anderen Websites zur Verfügung gestellt. Wenden Sie sich an die Inhaltsanbieter, um etwaige urheberrechtlich geschützte Inhalte zu entfernen, und senden Sie uns eine E-Mail. Wir werden die entsprechenden Links oder Inhalte umgehend entfernen.