Revanche: Wie Putin das bedrohlichste Regime der Welt geschaffen hat by Michael Thumann

Autor:Michael Thumann [Thumann, Michael]
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Political Science, World, Russian & Former Soviet Union, History, Europe, Germany, Geopolitics, Modern, 19th Century, United States, General, 20th Century, Biography & Autobiography, Presidents & Heads of State, Political Ideologies, Fascism & Totalitarianism, Travel, Russia, Western, Philosophy
ISBN: 9783406799372
Google: w46jEAAAQBAJ
Herausgeber: C.H.Beck
veröffentlicht: 2023-01-26T12:46:22.151864+00:00

Eine russisch-orthodoxe Kirche im

Moskauer Neubauviertel Mitino

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Thumann, Michael. Revanche : Wie Putin das bedrohlichste Regime der Welt geschaffen hat, C.H. Beck, 2023.

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10 Geschichtsvollzieher

Putins Missbrauch der Vergangenheit

Es war die eigenartigste Kriegserklärung der Weltgeschichte. In einer Fernsehansprache, die halb Zornesausbruch, halb Geschichtsvorlesung war, begründete Wladimir Putin am Abend des 21. Februar 2022 die Anerkennung der russisch beherrschten Separatistenrepubliken im ukrainischen Donbass. Damit begann sein Angriff auf die Ukraine. Zwischen Holzvertäfelung, Topfpflanze und Schnurtelefon schrie der russische Präsident knapp eine Stunde lang die Geschichte des 20. Jahrhunderts an, die Russland von Anfang bis Ende benachteiligt habe. Nach Luft ringend kritisierte er seine beiden Vorgänger, die alles falsch gemacht hätten. Er verdammte den Westen, der alles an sich gerissen hätte. Er wollte die verhasste Welt korrigieren, die seit dem Zusammenbruch des Sowjetreiches in eine falsche Richtung gegangen sei. Es war sein historischer Moment der Revanche.

Putin war von der Geschichte getrieben, benebelt, geradezu hypnotisiert. Mit dem Überfall auf die Ukraine trieb er sie voran, in eine ganz andere Richtung. Er sah sich im Februar 2022 längst in einer Liga mit Zar Peter I., dem Begründer des russischen Imperiums, und Josef Stalin, dem Sieger über Hitler und Eroberer Europas bis an die Elbe. Ihrem kolossalen Erbe wollte er nun sein Werk hinzufügen: die gewaltsame Rückkehr der Ukraine unter russische Herrschaft. Und danach – mal sehen.

Wladimir Putin rechtfertigte den Überfall mit einer langen Leidenssaga von Russland, das vom Westen betrogen, von Völkermord bedroht und durch die Ukraine verraten worden sei.

Diese Erzählung begleitete die russische Invasion der Ukraine und den mit nuklearem Gefuchtel unterlegten Druck auf den Westen. Sie zeigt, dass missbrauchte und falsch gedeutete Ge-Copyright © 2023. C.H. Beck. All rights reserved.

Putins Missbrauch der Vergangenheit — 155

Thumann, Michael. Revanche : Wie Putin das bedrohlichste Regime der Welt geschaffen hat, C.H. Beck, 2023.

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schichte auch im 21. Jahrhundert Kriege heraufbeschwören oder begründen kann. Putin beanspruchte ein tiefmoralisches Recht. Mit seiner bizarren Geschichtsauslegung versuchte er die Revision der europäischen Ordnung und Russlands ununterbro-chene Westausdehnung zu legitimieren. Er stellte den Westen als vertragsbrüchig dar, zerrüttete die Ukraine, spaltete die europäische und die deutsche Öffentlichkeit. Und vergiftete mit seiner Erzählung von Kränkung und Verrat das eigene Land.

Wladimir Putin war bei seinem Amtsantritt 1999 kein geborener Ideologe, sondern er wurde, wie weiter oben bereits aus-geführt, zum neuen Nationalisten. Für ihn stand die Macht stets im Vordergrund, ihre Übernahme, ihr Erhalt, ihr Ausbau. Die Erzählung von Betrug und Missachtung, die Russland in seiner Geschichte erleiden musste, ist Teil seiner Strategie, die Macht nach innen und nach außen auszubauen. Nach innen begründete der Bezug auf die Leidensgeschichte und Kränkungen seines Landes, warum er Kriege führen musste. Nach außen, vor allem gegenüber Ländern in Asien und Afrika, sollte sie begründen, warum Russland gegen den Westen nur um sein gutes Recht kämpfte. Beides mit ziemlichem Erfolg: siehe seine Zu-stimmungsraten in Russland 2022 und die Ablehnung von Sanktionen gegen Moskau in Ländern wie Indien, Südafrika, Nigeria oder Indonesien.

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