Rechtsphilosophie by Detlef Horster
Autor:Detlef Horster
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Reclam Verlag
veröffentlicht: 2014-08-14T16:00:00+00:00
[59] Legalität des nationalsozialistischen Rechts
Bei den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen stellte sich ebenfalls die Frage des Rückwirkungsverbots. Es wurde vorgebracht, dass zur Zeit der Taten nationalsozialistisches Recht galt. Um überhaupt eine Gesetzesgrundlage für die Anklage gegen die NS-Verbrecher zu haben, legte man das Kontrollratsgesetz Nr. 10 vom 20. Dezember 1945 zugrunde. Im Artikel 2 heißt es: »Jeder der folgenden Tatbestände stellt ein Verbrechen dar: […] c) Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Gewalttaten und Vergehen, einschließlich der folgenden den obigen Tatbestand jedoch nicht erschöpfenden Beispiele: Mord, Ausrottung, Versklavung; Zwangsverschleppung, Freiheitsberaubung, Folterung, Vergewaltigung oder andere an der Zivilbevölkerung begangene unmenschliche Handlungen; Verfolgung aus politischen, rassischen oder religiösen Gründen, ohne Rücksicht darauf, ob sie das nationale Recht des Landes, in welchem die Handlung begangen worden ist, verletzen.«
Im Urteil wird auf diese Rechtsgrundlage Bezug genommen. Dort heißt es: Der »Gerichtshof hat das Recht, Personen abzuurteilen und zu bestrafen, die durch ihre im Interesse der europäischen Achsenländer ausgeführten Handlungen, sei es als Einzelperson, sei es als Mitglieder von Organisationen, eines der folgenden Verbrechen begangen haben.« Dann folgt die Aufzählung aus dem Kontrollratsgesetz Nr. 10.
Das alles waren natürlich Hilfskonstruktionen. Um in Zukunft für solche Verbrechen eine Rechtsgrundlage zu haben, erfolgte die Menschenrechtsdeklaration vom 10. Dezember 1948.
Kehren wir zu dem Fall zurück, den das OLG Bamberg zu entscheiden hatte. Da hätte sich der andere große Rechtspositivist des 20. Jahrhunderts, Hans Kelsen, für die erste von Hart aufgewiesene Möglichkeit entschieden, denn für ihn galt Folgendes: »Vom Standpunkt der Rechtswissenschaft ist das Recht unter der Naziherrschaft ein Recht. Wir können es [60] bedauern, aber wir können nicht leugnen, daß das Recht war.« (Kelsen 1963, 148) Kelsen meinte, dass das Recht bei den Nationalsozialisten unter den Bedingungen des rechtlichen Verfahrens zustande gekommen sei: auf der Verfassung basierend, im parlamentarischen Verfahren des Gesetzgebers. Das zur Rechtssetzung erforderliche Verfahren haben die Nationalsozialisten allerdings abgeschafft. Das hat zum ersten Mal Franz Neumann in seiner klassischen Analyse des nationalsozialistischen Staates gezeigt, in der er zu dem Ergebnis kam, dass das Recht im NS-Regime nur noch »ein technisches Mittel zur Durchsetzung bestimmter Ziele« gewesen sei. Das Recht war nur noch Mittel zur Durchsetzung des Führerwillens. (Vgl. Neumann 1977, 518) »Wenn Recht und der Wille des Führers identisch sind, wenn der Führer selbst ohne jedes Justizverfahren politische Gegner töten lassen kann und diese Tat als höchste Verwirklichung des Rechts gefeiert wird13, dann allerdings kann man von einem spezifischen Charakter als Recht nicht mehr sprechen.« (Neumann 1977, 518) Darum können die Gesetze und die darauf basierenden Gerichtsentscheidungen während der NS-Diktatur nicht als Recht ausgezeichnet werden. Die parlamentarischen Abstimmungen über Gesetzesvorhaben und die Gerichtsprozesse waren damals reine Scheinveranstaltungen. Doch den Schein aufrechtzuerhalten, gehörte zur Strategie der Machterhaltung. Das ist der Tribut des Verbrechens an die Tugend: Weil die Menschen glaubten, dass sie in einem Rechtsstaat leben, sollte dieser Schein aufrechterhalten werden, und so hielt man weiterhin die Rechtsstaatsidee hoch. Auch das diente letztlich natürlich nur der Machterhaltung. »Schließlich nennen sich auch die Sondergerichte von modernen Polizeistaaten Gerichte und fingieren oft genug einen ›due process of law‹14, indem sie ihm Hohn sprechen, als Farce eines rechtsstaatlichen Verfahrens.
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