Putinismus by Walter Laqueur

Putinismus by Walter Laqueur

Autor:Walter Laqueur [Laqueur, Walter]
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Sachbuch
Herausgeber: Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin
veröffentlicht: 2015-04-21T16:00:00+00:00


Die Wiederentdeckung Iwan Iljins

»Eine Elite ohne Ideologie ist eine Gefahr«, schrieb Alexei Podbereskin, wie schon erwähnt, in der ersten Ausgabe des Jahres 2014 der rechtsextremen Zeitschrift Sawtra. Diese Aussage ist zu bezweifeln. Die Katastrophen der russischen Geschichte waren mindestens so oft auf ein Übermaß wie auf einen Mangel an Ideologie zurückzuführen. Dass Podbereskin bei einer der Präsidentschaftswahlen nicht allzu gut abschnitt – er kam auf nur 0,1 Prozent der Stimmen –, lag wahrscheinlich daran, dass er zu viele Ideen auf einmal vertrat. Er stand für eine Mischung aus radikalem Nationalismus, orthodoxem Christentum und poststalinistischen Ansichten. Da andere Parteien mehr oder weniger die gleiche Mixtur anboten, hatte das Wahlvolk die Qual der Wahl. Podbereskin war Berater des Vorsitzenden der Kommunistischen Partei, selbst aber kein Parteimitglied, und die Wähler konnten sich vermutlich nicht darüber klarwerden, ob sie es nun mit einem konservativen Revolutionär oder einem revolutionären Konservativen oder beidem oder keinem von beidem zu tun hatten.

Zweifellos zutreffend ist, dass sich die meisten russischen Parteien bis in jüngste Zeit alle Optionen offenhielten. Das ideologische Potpourri ist derart bunt, dass für jeden etwas dabei ist. Seit kurzem sucht man jedoch verstärkt nach etwas Konkreterem und Handgreiflicherem. 2013 ließ Putin an alle Gouverneure und hohen Politiker drei Bücher als Weihnachtslektüre verteilen: Berdjajews Filosofija nerawenstwa (Philosophie der Ungleichheiten), Iljins Naschi Sadatschi (Unsere Aufgaben) und Solowjows Die Rechtfertigung des Guten. Das war schwere Kost; eine solche Lektüre dürfte wohl kaum jemals von Politikern und Staatsbeamten in einem anderen Land verlangt worden sein. Alle drei Autoren waren Theologen beziehungsweise Religionsphilosophen, doch die von Putin verschickten Bücher handelten vorrangig nicht von Gott oder dem Teufel.

Solowjow, ein Schriftsteller des späten 19. Jahrhunderts, der sich mit vielen Themen beschäftigte, hatte großen Einfluss sowohl auf seine Zeitgenossen (wie etwa Dostojewski) als auch auf die nachfolgenden Generationen, vor allem aber auf seinen Neffen, den Dichter Alexander Blok, der mit seinem Gedicht über den »Panmongolismus« als Urahn des Eurasianismus betrachtet werden kann. Solowjow war jedoch alles andere als begeistert von dem, was er als Osten des Xerxes betrachtete. Er war ein religiöser Denker, vertrat allerdings einen ökumenischen Ansatz, setzte sich für die Versöhnung zwischen Ostkirche und katholischer Kirche ein. Damit machte er sich in orthodoxen Kreisen ebenso unbeliebt wie mit der Ansicht, dass der Antisemitismus der orthodoxen Kirche eine Schande sei.

Nikolai Berdjajew stammte aus einer Adelsfamilie, aus der viele Militärs hervorgegangen waren. Er gehörte der Generation nach Solowjow an und starb kurz nach dem Zweiten Weltkrieg im Pariser Exil. Er war hochgebildet und im Westen zweifellos der bekannteste religiöse Denker Russlands. Obwohl ohne jede akademische Qualifikation, wurde er im vorrevolutionären Russland zum Professor ernannt, ein beispielloser Vorgang, und hatte in der russischen Geistesgeschichte nur wenige seinesgleichen. 1922 befand er sich unter den Passagieren des sogenannten Philosophenschiffs, mit dem Lenin 160 ausgewiesene russische Intellektuelle nach Deutschland bringen ließ.

In dem von Putin verschickten Buch beschäftigte sich Berdjajew jedoch weder mit christlicher Ethik noch mit göttlicher Wahrheit und Offenbarung, sondern verteidigte die ökonomische Ungleichheit, womit er eine Art Vorläufer der amerikanischen Schriftstellerin und Philosophin Ayn Rand wurde. Das ist aus mehreren Gründen überraschend.



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