Provokation by Lem Stanisław

Provokation by Lem Stanisław

Autor:Lem, Stanisław [Lem, Stanisław]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Volk und Welt Berlin
veröffentlicht: 2015-12-20T16:00:00+00:00


Mein Leben

Beim Niederschreiben dieser Biographie bin ich mir der beiden entgegengesetzten Pole bewußt, die meine schreibende Hand anziehen. Das eine Extrem ist der Zufall, das andere die das Leben gestaltende Ordnung. Ist alles, wodurch ich auf die Welt kam und, wiewohl unzählige Male vom Tode bedroht, dennoch heil davonkam, um schließlich Schriftsteller zu werden - darüber hinaus noch einer, der sich immerfort bemüht, widersprüchlichste Elemente des Realismus und der Phantastik zu verbinden -, nur die Resultante langer Zufallsreihen? Oder war auch eine bestimmte Vorherbestimmung am Werk, nicht in Gestalt irgendeiner übernatürlichen Moira, nicht gleich über meiner Wiege zum Schicksal erstarrt, aber doch in mir keimend - sagen wir in meinem Erbgut, wie es sich für einen Agnostiker und Empiriker gehört.

Das Zufällige kann ich in meinem Leben bestimmt nicht von der Hand weisen. Als im Jahre 1915 die Festung Przemysl fiel, wurde mein Vater als Arzt der Österreichisch-Ungarischen Armee von den Russen gefangengenommen. Nach fast fünf Jahren ist er durch das Chaos der russischen Revolution in seine Heimatstadt Lemberg (Lwow) zurückgekehrt, und ich weiß aus seinen Erzählungen, daß er zumindest einmal von den Roten als Offizier, also als Klassenfeind, auf der Stelle erschossen werden sollte und nur deswegen mit dem Leben davonkam, weil ihn, als er bereits zur Erschießung geführt wurde, vom Gehsteig einer ukrainischen Kleinstadt ein Mann bemerkte und erkannte - ein jüdischer Friseur aus Lemberg, der den Stadtkommandanten höchstpersönlich rasierte, so daß er freien Zutritt zu ihm hatte. Deswegen hat man meinen Vater, der ja damals noch nicht mein Vater war, freigelassen, und er kehrte nach Lemberg zu seiner Verlobten zurück. Diese Geschichte kann man, ästhetisch lediglich verwickelt, in einer fiktiven Rezension (De Impossibilitate Vitae von Cezar Kouska) meiner Vollkommenen Leere finden. Dort war der Zufall das Schicksal in Person, denn wäre dieser Friseur nur eine Minute später durch diese Gasse gegangen, hätte es für meinen Vater keine Rettung gegeben. Ich habe das als Kind von ihm gehört, und sicher vermochte ich damals, ich mag zehn Jahre alt gewesen sein, mich keinen abstrakten Erwägungen hinzugeben, um die Kategorien des Zufalls und des Schicksals einander gegenüberzustellen. Mein Vater ist dann ein angesehener und recht vermögender Arzt (Laryngologe) in Lwow geworden. In dem doch recht armen Land, das dieses Vorkriegspolen war, fehlte es mir an nichts. Ich hatte ja eine französische Gouvernante, Unmengen an Spielzeug, und ich habe die Welt, in der ich heranwuchs, für etwas endgültig Stabiles gehalten. Warum aber, vorausgesetzt, daß dem so war, habe ich dann als die Einsamkeit liebendes Kind mir dieses skurril-merkwürdige Spiel ausgedacht, das ich in einem anderen Buch, nämlich Das Hohe Schloß, beschrieben habe?

Ich habe mich in fiktive Welten versetzt, die ich mir aber nicht sozusagen direkt ausgedacht oder vorgestellt habe. Als Schüler habe ich »gewichtige Papiere« in großer Anzahl fabriziert: Dokumente, Ausweise, Diplome, die mir Reichtum, hohe Würden und geheime Macht zuerkannten - oder auch unbeschränkte »Vollmachten«, »Passierscheine«, verschlüsselte und chiffrierte Beweise der höchsten Position - irgendwo, in einem Land, das auf keiner Karte zu finden war. Fühle ich mich denn verunsichert? Oder



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