[Politik und Religion 01] • Zur Diagnose der Gegenwart by Graf Friedrich Wilhelm & Meier Heinrich (Hg.)

[Politik und Religion 01] • Zur Diagnose der Gegenwart by Graf Friedrich Wilhelm & Meier Heinrich (Hg.)

Autor:Graf, Friedrich Wilhelm & Meier, Heinrich (Hg.) [Graf, Friedrich Wilhelm & Meier, Heinrich (Hg.)]
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Sachbuch
ISBN: 9783406652974
Herausgeber: Beck, C.H. Verlag
veröffentlicht: 2013-09-16T00:00:00+00:00


I

Unser Interesse gilt zunächst dem angemessenen Ort, den die politische Wissenschaft des Aristoteles der Frömmigkeit in einem gesunden politischen Gemeinwesen zuweist.[5] Orientieren wir uns am ersten Eindruck, stellen wir fest, daß Aristoteles gelegentlich mit beträchtlichem Respekt von der gewöhnlichen Frömmigkeit und vom überkommenen religiösen Kult spricht. Er verweist unter Nennung ihrer Namen viele Male auf die Olympischen Götter – auf Athena, Hephaistos, Aphrodite, vor allem auf Zeus –, Götter, deren Existenz er für selbstverständlich zu halten scheint. Auch scheint er die Dichtungen von Homer und Hesiod als gewichtige Autoritäten zu behandeln. Zum Beispiel wird der von Homer berichtete Umstand, daß Zeus kein Musikinstrument spielt, von Aristoteles als Beweis für die Auffassung zugelassen, daß gebildete Menschen gleichfalls davon absehen sollten, ein Instrument spielen zu lernen (im Unterschied zur Wertschätzung des kunstvollen Spiels anderer).[6] Und Athena, die angeblich die Flöte erfunden hat, warf sie trotzdem fort, offenbar weil das Spielen ihr Gesicht entstellte, oder, was Aristoteles für die «wahrscheinlichere» Erklärung hält, sie warf sie fort, weil das Erlernen des Flötenspiels für sie, die schließlich die Göttin der Weisheit ist, keine Verbindung zu einer ernsthaften geistigen Tätigkeit besaß.[7] Aristoteles berichtet auch ohne erkennbare Ablehnung von dem, was «wir» von Göttern und Helden «glauben» oder «annehmen» oder «sagen», nicht zuletzt von ihrer manifesten Überlegenheit gegenüber dem Menschen;[8] zum Beispiel stellt er fest, daß «wir uns vorstellen, daß die Götter im höchsten Sinne selig und glücklich sind» und stützt sich (wie wir sehen werden) auf diese Annahme, wenn er seine eigenen Argumente in bezug auf die Glückseligkeit entwickelt.[9] Schließlich wiederholt Aristoteles die Ansicht und scheint sie demnach zu teilen, daß die Götter, mit denen die Menschen hauptsächlich befaßt sind, zum politischen Gemeinwesen gehören; er teilt die Ansicht, daß das Leben der Polis grundlegend mit dem Kult der Götter, der Götter der Stadt, verbunden ist.[10] Aristoteles berichtet deshalb nicht nur über das, was man lose als die religiöse Orthodoxie der Polis bezeichnen könnte, sondern stützt sich auch in einem gewissen Maß auf diese Orthodoxie bei der Entwicklung seiner politischen Wissenschaft.

Doch man kann sicher ebenso einen ganz anderen Eindruck von Aristoteles’ Ansichten gewinnen. Um nur die schrillsten Bemerkungen herauszugreifen: Aristoteles erklärt unumwunden, daß der Tod für den Menschen ein Ende oder eine Grenze darstellt, jenseits deren es überhaupt nichts zu geben scheint – nichts, weder Gutes noch Böses[11] –, und daß es deswegen «seltsam» oder «widersinnig» sei, die Meinung zu vertreten, die Toten könnten glücklich sein.[12] Er behauptet, daß Unsterblichkeit für den Menschen «unmöglich» sei, wie sehr wir sie uns auch «wünschen» mögen.[13] In vergleichbarer Weise orientiert sich die beste Regierungsform oder das beste «Regime», dem das zentrale Interesse von Aristoteles’ politischer Wissenschaft gilt, an Umständen, für die «man beten würde», wie er wiederholt formuliert,[14] und dennoch macht er deutlich, daß er unter «Gebet» einfach einen Ausdruck des Bestmöglichen unter den bestmöglichen Umständen und keine spezielle Bitte an die Götter versteht, um das Unmögliche, das Wunderbare zu bewirken.[15] Er legt auch nahe, daß das Gebet die Macht des Zufalls in unserem Leben nicht überwinden kann,[16] was bekräftigt,



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