Philosophie einer humanen Bildung by Nida-Rümelin Julian

Philosophie einer humanen Bildung by Nida-Rümelin Julian

Autor:Nida-Rümelin, Julian [Nida-Rümelin, Julian]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783896844422
Herausgeber: edition Körber-Stiftung, Hamburg 2013
veröffentlicht: 2015-01-12T16:00:00+00:00


Kapitel VI:

Orientierungswissen

»Die neue Theorie erneuert die Ansicht der antiken Welt, dass Erfahrung in erster Linie nicht Sammlung von Kenntnissen, sondern ihrem Wesen nach praktisch ist, nämlich eine Angelegenheit des Handelns und des Erleidens der Folgen, die sich aus dem Handeln ergeben.«64

Um das Verhältnis von Lebensform, Wissen und Wissenschaft genauer zu bestimmen, schlage ich vor, auf den Begriff des Orientierungswissens zurückzugreifen. Orientierungswissen ist dadurch definiert, dass es für die menschliche Lebensform relevant ist. Die Ambivalenz dieser Formulierung wird uns noch beschäftigen. Geht es um Orientierungswissen, das für die menschliche Lebensform als solche, für die conditio humana, generell relevant ist oder geht es um Orientierungswissen, das je spezifisch für eine realisierte Lebensform relevant ist? Das Erste scheint sich angesichts der Vielfalt von kulturell realisierten menschlichen Lebensformen nicht bestimmen zu lassen und das zweite scheint allenfalls Gegenstand wissenssoziologischer Untersuchungen sein zu können. Für uns markiert der Begriff Orientierungswissen dagegen eine zentrale Dimension eines angemessenen Verständnisses von Bildung.

Das kulturelle Selbstverständnis besagt, dass wir in den westlichen Gesellschaften in einer wissenschaftlich-technischen Zivilisation leben. Unterdessen würde man wohl das Prädikat »ökonomisch« hinzufügen. In der Tat ist der wissenschaftlich-technische Fortschritt für die Entwicklung der westlichen Länder, die man bis vor Kurzem noch als Industriegesellschaften bezeichnete, obwohl der Anteil der industriellen Wertschöpfung am Bruttosozialprodukt schon seit Jahrzehnten zurückgeht, für die ökonomische Konkurrenzfähigkeit von großer Bedeutung. Unser Land braucht gute Naturwissenschaftler, Ingenieure und Techniker. Die mathematisch-naturwissenschaftlich-technische Kultur darf keine randständige, sondern muss eine zentrale Rolle im gesamten Bildungswesen spielen. Wir können uns nicht damit abfinden, dass es nach wie vor zwei geistige Verfasstheiten, zwei Wissenschaftskulturen zu geben scheint, die wenig miteinander zu tun haben (wollen). Als ich mich als junger Mann entschied, ein Doppelstudium der Philosophie und Physik aufzunehmen, wurde dies von den allermeisten als eine abwegige Fächerkombination empfunden. Philosophie gehört doch dem Schöngeistigen, der Bücherkultur, dem geschliffenen Argument an, während Physik auf sprachloser mathematischer Präzision beruht und in technischen Anwendungen ihre Nützlichkeit erweist. Ich habe dagegen beide Disziplinen als verwandt empfunden, beide verlangen weniger Wissen als Klarheit des Denkens, für beide spielt die Logik direkt und indirekt eine wichtige Rolle. Die Separierung unterschiedlicher disziplinärer Kulturen ist eine Krankheit, die unser Bildungswesen befallen hat.



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